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16. März 2017

Passive und aktive politische Gemeinschaft

Die Betrachtung der europäischen Mobilisierungsgeschichte führt auf nur zwei wirksame Motivatoren, nämlich
  1. den Appell an das Bedürfnis nach passiver politischer Gemeinschaft und
  2. die Betonung der Vorzüge der Macht,
womit ich nicht gesagt haben möchte, daß es andernorts anders wäre; die Beschränkung dient allein zur Vergewisserung.

Passive politische Gemeinschaft bedeutet, sich in der Lage zu befinden, sich gegebenenfalls anderen anschließen zu können, also am Glauben der anderen nichts zu finden, was einem der eigene Glaube nicht erlaubte zu teilen.

Das bedeutendste Beispiel des Appells an das Bedürfnis nach ihr in der jüngeren Geschichte ist durch den Abolitionismus gegeben, und alle solchen Konflikte haben den Charakter der Bekämpfung einer Häresie.

Um sich weltweit gegen sie zu verwahren, genügte es nach meinem Dafürhalten bereits zu bekunden, daß es die Aufgabe einer jeden Gesellschaft ist, ihren Mitgliedern, gleich, wer sich auch sein mögen, insgesamt die besten Entfaltungsmöglichkeiten zu geben - eine Aufgabe, welche in Ansicht der Mitglieder allerdings durchaus entschiedene Parteiischkeit erfordert, um die tragfähigste Gesellschaftsphilosophie zu wählen, wie ich es in den Beiträgen zur Vereinbarkeit der Seelenteile in einer Kultur beschrieben habe, siehe etwa Gemeinschaftsstiftende Erzählungen und natürlich Nochmals zur Unvereinbarkeit aller Seelenteile in einer Kultur:
 Nur der behauene Stein besitzt Ausdruck.
Aber das sei hier nur am Rande ins Gedächtnis gerufen. Das eigentliche Thema dieses Beitrags ist ganz ein anderes. Gemeinsam die Vorzüge von Macht zu genießen, stellt zwar eine aktive politische Gemeinschaft dar, aber nur die allerprimitivste.

Nun war es allerdings lange Zeit so, daß sich das höchste Wohl einer Gesellschaft zugleich in der ihr größtmöglichen Machtfülle zeigte, so daß die größte Macht auch immer die besten Einrichtungen mit sich führte, es sei denn, sie wollte bloß verwüsten, was allerdings als distanzschaffende Maßnahme auch nicht unbedingt abzulehnen ist.

Heute hingegen sorgt die nukleare Abschreckung dafür, daß sich überlegene Einrichtungen nicht mehr militärisch bewähren oder anders ausgedrückt: Gesellschaftliches Wohl und militärische Macht können sich in einem breiten Band unabhängig von einander bewegen.

Und das führt dazu, daß die Betonung der Vorzüge der Macht einen zunehmend bedenklichen gesellschaftlichen Motivator darstellt. Und was bedeutet das?

Es bedeutet, daß die Menschheit dabei ist, ihre einzige gemeinschaftlich produktive Initiative an die Destruktivität zu verlieren:
Wo die Machtausübung nicht mehr auf das Gemeinwohl Rücksicht nehmen muß, da tut sie es auch nicht.
Die Abkopplung geschieht unter der Anrufung des Friedens, und sie verhindert auch Kriege, doch was uns heute in erster Linie beschäftigen sollte ist, was sie versäumt.

Sie versäumt es, neue Formen aktiver politischer Gemeinschaft zu etablieren.

Aktive politische Gemeinschaft sollte uns meines Erachtens bedeuten, nach Maßgabe unseres Urteils an der Gestaltung der Gesellschaft, in welcher wir leben, teilzunehmen, daß wir jedes Gesetz, welches zwischen uns gilt, absegnen können, und jedes Anliegen, welches uns am Herzen liegt, zu Ohren bringen, daß wir uns gegenseitig als politische Autoritäten anerkennen und die Körperschaft, in welcher wir solches tun, verteidigen.

Nicht alle müssen, ja, nicht alle können dieser Körperschaft angehören, aber vier von fünf Männern sollten es in jedem Land tun, und in ihr brauchen Gesetze allgemeine Zustimmung, Einzelne können aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, aber einen Disput um die Rechtmäßigkeit ihrer Gesetze kann sie sich nicht leisten, wenn sie sich als Ausdruck eines gemeinschaftlichen Willens verstehen will:
Zwar kann eine Regelung gelten, sobald sie die Unterstützung der Mehrheit hat, aber nicht, wenn sie auch nur jeder Zwanzigste für Unrecht hält.
Das ist der Sinn von Verfassungen, aber weder erfüllen sie ihn stets, noch bedarf er unbedingt ihrer: Letztlich zählt einzig die Bereitschaft und Fähigkeit einer Gruppe von Menschen, sich auf diese Weise zu respektieren.