Bereitschaftsbeitrag

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13. Mai 2015

Regungen

Im Gegensatz zu Stimmungen spiegeln Regungen nicht unser Verhältnis zu uns selbst wider, sondern zu etwas anderem.

Entsprechend entspringt ihre Wirkung auch nicht einem Vermissen von oder Scheuen vor etwas, was wir als zu uns gehörig betrachten, ist also keine Eigenwirkung der Sorge, sondern geht von Anziehungen aus, womit sie auch nicht Verpflichtung, sondern Aufgerufenheit ist.

Freilich, erstere mag sich an letztere anknüpfen, wenn wir dafürhalten, daß uns Aufrufe in bestimmten Lagen zu bestimmten Diensten verpflichten, ausgehend von unserem Verständnis unserer Einbringung ins Leben, das heißt unserem Verständnis ethischer Schönheit, aber zunächst einmal sind dies klar unterscheidbare Dinge: Wohl möchte man einem Aufruf folgeleisten, aber wenn man nicht dazu kommt, fühlt man sich weder per se schuldig, noch traurig, sondern ärgert sich höchstens.

Interessant ist aber auch weniger die Struktur von Regungen,
  • Anziehung,
  • Aufgerufenheit,
als vielmehr ihre Breite.

Was zieht einen Menschen an?
  • Das Unverständliche durch Verwunderung,
  • das Kooperative durch Interesse,
  • das Unbeholfene durch Belustigung,
  • das Unglückliche durch Mitleid,
  • das Erfolgreiche durch Neid,
  • das Vorbildliche durch Bewunderung,
  • das Ungerechte durch Zorn und
  • das Entrechtende durch Lähmung.
Die erste Regung ist intellektueller Art, die übrigen sozialer, wobei die zweite bis fünfte operational sind und die übrigen ethisch.

Betrachten wir das genauer. Was die Ethik betrifft, so ist es ziemlich klar, daß sie drei verschiedene Verhältnisse zu ihr mit sich bringt,
  • der Ethik wird entsprochen,
  • der Ethik wird nicht entsprochen,
  • die Ethik wird in ihrem Bestand gefährdet.
Bleiben die Operationen. Ein Mal mag der Kooperation nichts im Wege stehen, und zum anderen mag sie grundsätzlich unerwünscht sein, in welchem Fall es auch keinen Grund zu irgendeiner Regung gibt. Sonst aber liegt irgendein Hindernis vor. Welche Hindernisse kann es aber bei beidseitigem grundsätzlichen Interesse geben?
  • Der Andere ist zu unerfahren,
  • dem Anderen ist zu wenig Gutes oder zu viel Schlechtes zugestoßen,
  • der Andere hat zu viel Erfolg.
Betrachten wir nun die Aufrufe und machen uns dann ein Bild von der Natur der Regungen und damit auch des Menschen.
  • Der Verwunderung folgt die Faszination, welche zur Untersuchung aufruft,
  • dem Interesse die Sympathie, welche zur Zusammenarbeit aufruft,
  • der Belustigung die Altklugheit, welche zur Hilfestellung aufruft,
  • dem Mitleid die Barmherzigkeit, welche zur Spende aufruft,
  • dem Neid die Besessenheit, welche zur Imitation aufruft,
  • der Bewunderung die Gunst, welche zum Dienst aufruft,
  • dem Zorn die Wut, welche zur Strafe aufruft,
  • der Lähmung der Haß, welcher zur Feindschaft aufruft.
Anmerkung. Zusammenarbeit kann natürlich auch heißen, daß man zusammen in die Kiste steigt, aber von Liebe möchte ich bei Sympathie erst sprechen, wenn Verantwortung für den anderen im Rahmen eines ethischen Ideals übernommen wird.

Wenn man die menschlichen Regungen also betrachtet, fällt es schwer zu glauben, daß die menschlichen Beziehungen unter einander jemals überwiegend vergiftet sein könnten - aber sie sind ist. Wenigstens heute, und vielleicht sogar meistens.

Woran liegt das?

Zum einen setzt es einen Willen zur systematischen Störung voraus, einigermaßen notwendigerweise im Rahmen eines fehlgeleiteten ethischen Ideals, wiewohl es natürlich auch zuweilen zum Sieg der Lust über die Ethik kommt und sie dabei unter Umständen deren Instrumente in ihren Besitz nimmt; Napoléon und Hitler sind Beispiele, wenn auch keine reinen.

Zum anderen aber in methodischer Hinsicht die Verknüpfung von Scham und Neid durch Förderung der Großmannssucht, um letzteren in einen Antrieb zur Feindschaft zu verwandeln (wenn individuelle Großartigkeit ein gesellschaftliches ethisches Ideal ist, bedroht der Beneidete den Bestand der Ethik, während er einen ansonsten lediglich zu ein bißchen widerwilliger Anpassung zwingt) und allgemeiner die grundsätzliche Förderung von Scheinschuld und Scheinscham, um Feindschaft unter den Menschen zu entfachen.

Es ist übrigens natürlicherweise nie so, daß jemand dafür Schuld trägt, daß sich ein anderer schämt. Eine gesellschaftliche Ethik, welche zu solchem führt, ist grundpervers und begründet konkret eine Scham, wo keine zu sein hat. Mithin ist es auch dann nicht die Schuld des Einzelnen, daß sich jemand schämt, sondern die Schuld der Gemeinschaft, welche diese Ethik angenommen hat.

Beispiele dafür gibt es noch und nöcher. Neben der Großmannssucht, welche sich dafür schämt, nicht groß zu sein, auch die Erfolgssucht, welche sich dafür schämt zu verlieren und die Unbezwingbarkeitssucht, welche sich dafür schämt, Opfer zu werden. Ein Beispiel für letztere ist es auch, wenn sich ein Schüler dafür schämt, daß ihm ein anderer von hinten erfolgreich die Hose vor weiteren heruntergezogen hat. Daß dies die anderen belustig ist natürlich, aber darin liegt nicht die Scham, es wäre ja auch möglich, daß sie dem Opfer zurufen: Los, schnappen wir uns den Strolch und hängen ihn an den Beinen am nächsten Baum auf! Stattdessen aber sind sie so erzogen, daß sie die technische Leistung anerkennen. Und die Lehrerin hängt den Täter auch nicht für seine Nötigung an den Beinen am nächsten Baum auf, sondern sagt: Das ist natürlich sehr lustig, aber du mußt daran denken, daß sich der andere schämt. Zorn ist da angemessen, Scham nicht.

Freilich, zur Natur gehört es auch, daß, wenn Wut gesellschaftsfähig ist, mancher über die Stränge schlägt und dadurch eine Spirale der Gewalt entsteht, wenn keine ethischen Mechanismen greifen, die Menschen zur Besinnung zu bringen und die Eskalation der Gewalt zu unterbinden. Indes ist der Grad sozialer Vergiftung heutzutage kaum zu überbieten, und ich würde stark dafür plädieren, Gottes Schöpfung grundsätzlich zu vertrauen: Die Makel, welche sie an sich selbst erkennt, erkennt sie, um sie auf höherer Ebene zu beheben. Zynismus gegen sich selbst führt zu Wunden gegen sich selbst.

Post Scriptum vom 16.8.2015. Die anziehende Regung geht der aufrufenden zum Zweck der sozialen Koordination voran, also wenn man beispielsweise erst einmal verwundert einen anderen fragt, bevor man fasziniert selbst die Untersuchung beginnt.

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