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20. Februar 2017

Zur Gesetzlosigkeit der deutschen Rechtschreibung

Natürlich ist bereits die deutsche Sprache gesetzlos, etwa was das grammatikalische Geschlecht angeht (die Fahrt, aber der Flug, die Marter, aber der Prügel) oder die jeweils zu verwendende Präposition (Glaube an, aber Vertrauen auf, auf Kosten, aber unter Verlusten), aber ihre schriftliche Fixierung bringt noch einmal eine weitere Schicht der Gesetzlosigkeit mit sich.

Mit der Kommasetzung, der Groß- und Klein- oder Getrennt- und Zusammenschreibung möchte ich mich hier nicht beschäftigen, sondern mein Augenmerk einzig auf die Wahl der einzelnen Buchstaben zur schriftlichen Wiedergabe der gesprochenen Laute richten.

Gesetzlos ist diese Wahl, wenn sie willkürlich einen oder mehrere Buchstaben für die Wiedergabe eines Lautes im selben Kontext wählt, und insbesondere, wenn das Alphabet mehrere willkürliche Varianten für denselben Laut umfaßt, wie zum Beispiel f und v oder chs, ks und x.

Einige Beispiele. Vater, Familie, von, für, Vogel, Fohlen. Achse, Axt, staksen, schnackseln, wichsen.

Bemerkung. Bei f und v kann man freilich einwenden, daß es sich gar nicht um denselben Laut handelt, sondern daß das v ein leichter labiodentaler Frikativ ist und das f ein schwerer. Allerdings ist es unklar, in wieweit das wirklich Konsens unter den Sprechern des Deutschen ist.

Gehen wir hier tatsächlich von der Nichtgleichwertigkeit von f und v aus, können wir uns bis hierhin damit trösten, daß es nur wenige Wörter mit chs, ks oder x im Deutschen gibt und wir diese Fälle also bald hinreichend gut kennen, wenn wir uns gesondert mit ihnen befassen.

Kommen wir somit zur Frage der Anzeige von kurzen oder langen Vokalen.

Folgende Mechanismen gibt es in der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zweck:
  1. Konsonantenverdoppelung (einschließlich ck und tz) zur Anzeige eines kurzen Vokals,
  2. Vokalverdoppelung oder Ergänzung um ein e zur Anzeige eines langen Vokals,
  3. h und ß (aus hs in deutscher Schrift) zur Anzeige eines langen Vokals.
Das i wird nie verdoppelt (ha, ha, nie!), sondern um ein Dehnungs-e ergänzt, und die übrigen Fälle, in welchen ein Dehnungs-e auftritt sind ausgesprochen selten, gerade kommt mir nur Itzehoe in den Sinn.

Das heißt, um die innere Regelmäßigkeit der zweiten Klasse müssen wir uns nicht sorgen, und um die der ersten und der dritten auch nicht, da kk, zz und hs im Deutschen spätestens seit dem 19. Jahrhundert verboten sind.

Betrachten wir also die äußere Gesetzlosigkeit zwischen diesen Klassen.

Zunächst einmal ist dazu festzustellen, daß nur die Anzeige der Kürze, nicht aber die der Länge eines Vokals, im Deutschen obligatorisch ist, und auch das nur, wenn lediglich ein geschriebener Konsonant in der Grundform folgte, also nicht bei Konsonantenkombinationen oder bei ch oder sch. Davon ausgenommen sind Vor- und Endsilben, welche als bekannt angenommen und nie gekennzeichnet werden (er-, ver-, zer-, be-, ge-, ent-, -e, -en, -er, -in) und Präpositionen: an, in, unter, über, auf, neben, entlang, durch, für, von, zu, nach, bei, zwischen, um, vor, hinter, wobei spätere Bildungen wie nahe oder gemäß freilich davon ausgenommen sind, mal ganz abgesehen davon, daß das h in nahe natürlich, wenn auch nur schwach, gesprochen wird.

Und auch für einige Pronomen gilt dies: der, das, wer, was, dir, mir, uns, ich, du, er, es, wir, mich, dich, sich.

Aber bleiben wir beim allgemeinen Wortschatz: Moos, Los, Tal, Aal, Moor, Mohr, Tor, Boot, Kot, Schal, fahl, schwül, kühl, Teer, hehr, Heer, Wehr, Dame, Dänen, dehnen, wähnen, malen, mahlen, Mehl, scheel, schal, Schale, Wal, kahl, schälen, wählen und so weiter.

So gesetzlos das auch ist, es besitzt eine gewisse Ästhetik, nämlich die Ästhetik des Zierrats: Hier das hin, und dort dies...

Die Länge eines Vokals muß also nicht gekennzeichnet werden, und die Wahl der Kennzeichnung steht auch frei, wobei die Vokalverdoppelung, ausgenommen die Dehnung des i's durch's e, freilich eher selten ist.

Interessanterweise führt die mangelnde Kennzeichnungspflicht der Kürze eines Vokals im Deutschen nicht zu Willkür: Dach ist kurz, und Buch und Tuch sind lang, aber das liegt daran, daß es zwei verschiedene Vokale sind. Wucht, Schlucht, Macht, Tracht und so weiter sind alle kurz, aber hier folgt mehr als nur ein Konsonant. Und Gemach und Geruch sind beide lang, aber hier ist die Betonungssituation eine andere. Es ist also möglich alle Fälle als Fälle zu betrachten und sich an sie zu gewöhnen.

Summa summarum: Die Gesetzlosigkeit der deutschen Rechtschreibung entspringt dem wankelmütigen Bestreben, die Länge von Vokalen zu kennzeichnen, was an sich überhaupt nicht nötig wäre, da die Kennzeichnung der Kürze hinreicht, wiewohl die orthographische Trennung von Wörtern gleicher Aussprache, aber verschiedenen Sinnes, selbstverständlich nicht ohne Verdienst ist.

Für die aktuelle Debatte über phonetisches Schreiben heißt das, daß den Kindern vernünftigerweise gesagt werden sollte, daß sie sich um die Kennzeichnung der Länge eines Vokals zunächst mal keine Gedanken machen sollten, da es bei Kennzeichnung der Kürze schon klar ist, welche Vokale lang sind. Ihnen zuzureden, mal selbst mit Vokalverdoppelung und h Wörter zu verschönern, mag in der Tat zu nichts Gutem führen. Das ß nimmt selbstverständlich hinsichtlich der Sonorität in Ableitungen noch wieder eine Sonderstellung ein: mies und fies, aber Spieß; miese, fiese Spieße.

Natürlich mag es etas länger dauern, bis die Kinder auf diese Weise Boot richtig schreiben, aber dafür mag ihnen das Wesen der deutschen Orthographie um so klarer sein und sie weniger gezwungen erscheinen: Einen pädagogischen Schaden sehe ich eher nicht.

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