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4. Juni 2024

Elementare und komplexe kausale Beziehungen

Die Schönheit der Physik besteht in der Einfachheit der Beziehungen zwischen den gegebenen Verhältnissen und jenen, welche ihre Änderung beschreiben, derart es möglich wird, Formeln für die allgemeine Entwicklung aufzustellen und ihre Lösungen bisweilen sogar zu berechnen.

Letzteres beruht meist auf speziellen Verhältnissen, etwa hochgradig symmetrischen, welche die mathematische Komplexität einschränken, aber auch wenn sich eine Gleichung nicht auflösen läßt, gilt ihre Lösung als prinzipiell bestimmt, was streng genommen auch wieder mathematisch bewiesen werden müßte (Existenzbeweis), aber von Physikern standardmäßig mit dem Hinweis darauf, daß sich die Welt schließlich entwickle, weggewischt wird.

Ich könnte jetzt einen ganzen Roman darüber schreiben, zu welchen Schlußfolgerungen und gedanklichen Inkongruenzen dieser Ansatz die Menschen führt, aber ich möchte mich auf das kulturell bestimmende beschränken, nämlich
  1. daß wir in einer Welt leben, deren Zukunft zu jeder Zeit von ihrem gegenwärtigen Zustand bestimmt wird, und
  2. daß wir ihren Zustand jederzeit in einen solchen überführen können, dessen durch ihn bestimmte Zukunft wir vorziehen.
Wir betrachten die Physik also als Herrschaftswissen, welchem die ganze Welt unterworfen ist, ohne die Willkür unserer Herrschaft zu betreffen.

Praktisch sieht es wie gesagt anders aus, wir beherrschen nur spezielle Verhältnisse und nehmen die übrigen hin, aber wir profitieren dabei von den allgemeinen Formeln, welche die Physik aufstellt, und deshalb erlauben wir uns unser größenwahnsinniges und schizophrenes Wissenschaftsverständnis.

Jedoch, indem uns die inhärente Schizophrenie unseres Ansatzes desto größere Probleme bereitet, je näher wir unserem größenwahnsinnigen Selbstbild kommen, verliert diese Praxis ihre Rechtfertigung.

Und indem sie ihre Rechtfertigung verliert, verliert zugleich auch ihre Grundlage, denn der Grund, warum sich Menschen einfachen Regeln unterwerfen und ihr Verhalten dadurch erst berechenbar wird, ist der praktische Nutzen der Regeln, denn das ist die praktische Auflösung der Schizophrenie, alles willkürlich beherrschen zu können: sich freiwillig im Rahmen der größeren Aufgabe beherrschen zu lassen.

Wie gesagt, dieser Aspekt der Selbstbeherrschung wird von unserem Wissenschaftsverständnis ausgespart, da wir in dieser Frage der einfachen Heuristik vertrauen, daß es uns allen am besten geht, wenn wir uns vor dem Größenwahn unserer Ambitioniertesten verbeugen, wie Christus ja auch gesagt hat: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen - sollen die Sternschnuppen doch verglühen. Doch es ist nur so lange für uns alle am besten, wie die Ambition von einer großen Aufgabe, einer erstrebenswerten Verbesserung der materiellen Verhältnisse, also jener, deren kausale Beziehungen tatsächlich elementar sind und nicht erst infolge der Verbeugung vor der größeren Aufgabe, an welchem Punkt sich die Schlange in den Schwanz beißt, befeuert wird.

Aber welche Verbesserungen schweben unseren Ambitionierten heute vor? Daß unser aller Mühen weniger würden - oder einzig ihre? Wird unser Leben überhaupt noch durch Mühen bestimmt? Und wenn es das nicht wird, warum genau sollten wir den Größenwahn, alles zu beherrschen, unterstützen?

Ich behaupte, daß es an der Zeit ist, die Frage nach unserer Selbstbeherrschung zu stellen, wie sie es seit je in Klöstern wird, jedoch spielerisch und hypothetisch, wo der mögliche Formenreichtum menschlicher Gesellschaften in ihrer Abgeschiedenheit zur Wissenschaft wird.

Wissenschaft, um zum ersten der beiden zentralen Punkte dieses Beitrags zu kommen, bedeutet Wissensvorratshaltung, und diese ist nur unter einer der beiden folgenden Voraussetzungen möglich:
  • entweder die kausalen Beziehungen sind einfach genug, um sie durch allgemeine Gesetze zu beschreiben, oder
  • Spezialfälle lassen sich losgelöst von der speziellen Gegenwart betrachten.
Das Verhalten des Menschen ist natürlicherweise komplexer Art, und alles, was wir über es aussagen können, ist, das bestimmte Verhaltensweisen sich schwerlich mit anderen verbinden lassen, derart sich charakteristische Alternativen bilden, zwischen welchen wir wählen können. Wir nehmen die Fähigkeit des Menschen zu wählen also hin und versuchen nicht, seine Wahlen kausal zu begründen, da wir die Komplexität der Beziehung anerkennen, aber wir beschreiben, welche Alternativen nur zur Wahl stehen - nicht unähnlich dem delphischen Orakel.

Und der zweite zentrale Punkt dieses Beitrags ist nun, daß sich dieses Wissen zwar in der Abgeschiedenheit eines Kloster zur Vorbereitung eines Neuanfangs anhäufen läßt, aber nicht in der gelebten Praxis einer Gruppe von Menschen, welche wählt, wie sie sich selbst beherrscht, denn offensichtlich bestimmen ihre Wahlen, welche weiteren Wahlen sie interessieren, und sehr bald schon wäre ein Wissensvorrat, welcher nicht auf die getroffenen Wahlen zugeschnitten wurde, erschöpft, da er in die Breite und nicht die Tiefe geht.

Deshalb bedarf es in einer solchen Gruppe einer anderen Art des Lehrens, welche die dreischneußigen Konsequenzen, um die seelischen der Eindeutigkeit halber einmal so zu nennen, an der Geschichte verdeutlicht und zur Fortführung dieses Verständnisses für die zukünftigen Entscheidungen aufruft, wozu sich hoffentlich hinreichend begnadete Schüler finden, aber allen Mitgliedern der Gruppe muß die Bedeutung dieses Vorgehens für ihre Selbstbeherrschung klar sein - wahrscheinlich ebenfalls wie bei den alten Griechen, wobei ich dies freilich alles offen ausbreite und keine Vermittlung für die Minderbemittelten vorsehe, wie sie das delphische Orakel selbstverständlich war.

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