Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

14. November 2007

Das denkende Ich

So hilfreich es auch ist, die intellektuellen Leistungen unterschiedlichen intellektuellen Vermögen zuordnen zu können, die Entwicklungsphasen des Intellektes zu kennen und die ihm möglichen Beiträge zur Entwicklung einer Kultur, nämlich, um dies noch einmal systematischer zu fassen, daß er entweder ein kulturstiftendes Wollen in die Welt bringt oder kulturnotwendige Einsichten verbreitet oder die in einer Kultur angelegten Fragestellungen weiterverfolgt oder kulturerhaltende Dienste übernimmt oder schließlich der Kultur ein neues Herrschaftsgebiet erschließt, so wenig kommen wir umhin, uns des Denkens als stattfindenden Vorgangs anzunehmen, wenn uns das vorige etwas konkretes bedeuten soll. Nun sind es aber Wir, welche denken, und bevor wir unser jeweiliges Ich verstehen, können wir also auch unser jeweiliges Denken nicht als jenes ändernden Vorgang verstehen.

Überlegen wir uns also zunächst einmal, was unser Ich für uns ausmacht. Offenbar doch wohl unsere Wahrnehmungen, unser Wollen und unsere, im weitesten Sinne verstandenen, Taten.

Nun mag einer einwenden, daß in unserem Bewußtsein doch stets nur Wahrnehmungen sind. Das hält uns aber nicht davon ab, uns in jedem Augenblick als wahrnehmend, wollend und handelnd aufzufassen, also eine Wahrnehmung um die Wahrnehmung der in ihr bestehenden Verhältnisse zu erweitern. Daß in einer Wahrnehmung Verhältnisse bestehen ist dabei in einem begründenden Sinne zu verstehen, wir mögen einen Eindruck dieses Bestehens haben, aber ohne zu wissen was da besteht. Wir ermitteln es nun, indem wir einen nicht notwendigerweise angeschauten, aber sonstigenfalls in einer Anschauung eingebundenen Gegenstand† zu einem Bezugspunkt eines von uns untersuchten Verhältnisses machen, welches wir dann nach jenem Gegenstand auflösen, welcher zum ersten Gegenstand in der zu grunde liegenden Anschauung im untersuchten Verhältnis steht. Diese Wahrnehmung eines bestehenden Verhältnisses nennen wir auch die Reflexion dieses Verhältnisses oder den Begriff des herausgegriffenen Gegenstandes. Beispiele solcher Begriffe sind insbesondere die Ermessungen einer Größe, also einer Weite, einer Dauer oder einer Stärke, welche einem angeschauten Gegenstande innewohnen mag. Nun werden durch das Zusammenkommen zweier Gegenstände in einer Reflexion selbstverständlich wiederum Verhältnisse gebildet, und die Frage stellt sich, in welcher Form wir uns dieser bewußt sein können. Verstandesverhältnisse sind nämlich stets binär, dieses Zusammenkommen hingegen ternär, kann also ganz nicht von uns erfaßt werden und muß somit auf verschiedene Weisen zerbrochen werden, um durch deren Zusammennahme wieder vollständig verstanden zu sein. Eine theoretische Lösung dieses Problems bestünde in der Ersetzung der Beziehung a~b~c durch die Menge {a~b, b~'c} (in einem linearen Text erscheint diese Aussage freilich nicht sonderlich glücklich), welche aber nicht die Lösung ist, welcher wir uns in unserem Denken bedienen, dort verwenden wir vielmehr a~(b~'c). Genauer gesagt bilden wir die Verkörperung eines bestimmten oder unbestimmten Verhaltens, also eines im Verhältnis zu einem Gegenstand Stehens oder eines im Verhältnis Stehens an sich, durch spezielle Verstandesgegenstände, eben den Nachbildungen, syntaktisch nach. Sei zum Beispiel eine Fläche rot ausgefüllt, dann lauten unsere Nachbildungen der Fläche nach dem vorigen „Ausgefülltes“ und „rot Ausgefülltes“ (b~'c). Nachdem wir diese Nachbildung gebildet haben, steht sie im Verhältnis der Darstellung zum, wie wir nun sagen, auch sie verkörpernden Gegenstand, und damit haben wir das Zusammenkommen vollständig verstanden (a~(b~'c)).

An dieser Stelle sollte man eine gewisse Schwierigkeit zur Kenntnis nehmen. Die Fläche, welche ich eben ansprach, verkörpert also „rot Ausgefülltes“, dann verkörpert sie aber auch „rot Ausgefülltes Verkörperndes“ und so weiter. Wenn man sich also fragt, was die Fläche verkörpert, und man muß es ja, um zur Reflexion dessen zu kommen, muß einem das Worin klar sein, in welchem die Fläche etwas verkörpert, also das angeschaute bestehende Verhältnis, oder, um die Situation hier klarer zu benennen, die zu grunde liegende Reflexionsstufe. Das kann es aber nur, wenn verschiedene Reflexionsstufen nicht nebeneinander in unserer Anschauung bestehen können, was allerdings auch nicht der Fall ist.

Was ich zuvor Vernunft genannt habe ist also auch ein Teil des Verstandes, nämlich jener, welcher sich mit den reflektiven Gegenständen beschäftigt, genauer wäre also vernünftiger Verstand, und wenn wir reflektieren, so spüren wir im Falle eines Mißerfolgs auch wieder einen Schwindel, genauer gesagt Verwirrung, da die Reflexion eben eine Anschauung ist, und wir verspüren die bereits erwähnten wertschätzungsartigen Gefühle im Umgang mit den Gegenständen der Vernunft, den Nachbildungen, welche das Gefallen unseres vernünftigen Verstandes an ihnen ausdrücken, was wiederum mit der Anstrengung ihrer Ersetzung durch Verbesserungen oder ihrer Sicherung für die Zukunft einhergeht. Wo es sich allerdings vermeiden läßt, werde ich auch in Zukunft die Vernunft nicht weiter sezieren, sondern sie als ein integrales Vermögen betrachten.

Das Wollen nun besteht ganz allgemein in einem Gefühl des Mißstands oder der Zufriedenheit, welches der Verstand auf Gegenstände der Wahrnehmung bezieht. Ist es ein Gefühl des Mißstands, so folgt auf es eine unwillkürliche Abwendungshandlung, welche im Falle der Bezogenheit auf reflektierte Verhältnisse darin besteht, sich auf angenehmere Verhältnisse zu besinnen.

Taten sind entweder die Ergebnisse von Anstrengungen, nämlich wenn sie auf Gegenstände einer nicht abgesehenen Anschauung gerichtet sind, oder andernfalls die vollzogenen Anstrengungen selbst und entstehen aus beschlossenen Vorsätzen, mit welchen zusammen sie im ersten Falle die Teile der reflektierten Anstrengung bilden, während der beschlossene Vorsatz im zweiten dem obigen gemäß unter sie gezählt wird. Ein Vorsatz besteht dabei entweder in einer selbstbezüglichen Anschauungsaufforderung, also daß aus ihm eine Anschauung entstehe, einschließlich eines rein gefühlsmäßig bestimmten, unreflektierten Verständnisses, darin, Anschauungsgegenstände, im zweiten Falle die Anstrengung selbst, in vorgesetzten Verhältnissen zu gewahren oder darin, das Vorige in regelhafter Begleitung zuzusichern, wie es bei der Verwendung von Begriffen und der Befolgung sonstiger Maximen geschieht, wann also aus einem Vorsatz eine unbestimmte Zahl an Taten ensteht.

Das Wesen der Reflexion bringt es aber auch mit sich, daß Wir uns noch auf eine andere Weise begegnen denn als welt-, heil- und schuldgenerierende Struktur des Verstandes, auf welche wir uns übrigens, auf einer Reflexionsstufe stehen bleibend, auch ausschließlich konzentrieren können, um dann mit der größten Sicherheit zu sagen: „Das bin ich.“, nämlich als einen Teil dieser Struktur in der reflektierten Gegenwart.

Die Zeit dabei ist zunächst einmal eine anschauliche Abfolge von Wahrnehmungen, welche eine solche freilich erst durch den Verstand wird, und ebenfalls durch ihn entsteht inmitten dieser die Verkörperung des gegenwärtigen Augenblicks als auf sinnlichem Wege Wahrgenommenes‡. Seine Reflexion als solcher nun bewirkt hingegen merkwürdiges, nämlich ein überwältigendes Gefühl von Wirklichkeit, was wohl daran liegt, daß die Reflexion stets neue Augenblicke zur Anschauung der Vernunft bringt, derer der vernünftige Verstand nicht Herr wird. Bei dieser Reflexion müssen wir uns aber auf bestimmte Bereiche unseres Ichs, also z.B. auf den Flügelschlag eines Vogels in der von uns wahrgenommenen Welt, beschränken, denn ein Übergang zwischen seinen einzelnen Teilen unterbricht stets die Reflexion der Gegenwart, und wenn wir sagen, daß wir sind, so meinen wir Uns damit entweder als Wahrnehmende, Handelnde oder Wollende, welches somit die kanonischen Formen der subjektiven Kontemplation sind, wobei uns die erste die Welt verdeutlicht, die zweite unser Schicksal und die dritte unseren Glauben, dies alles aber nur auf anschaulicher Ebene, ohne Erfassung der aufkommenden Verstandesstrukturen, auf welche wir uns zwar besinnen könnten, aber nicht ohne die Kontemplation zu beenden. Erst die Wirkung objektiver Kontemplationen, wie des Flügelschlags, ermöglicht es Verstandesstrukturen als solche und in ihren Teilen in der vergehenden Zeit zu erfassen, was daran liegt, daß die betrachteten Teile die ganze Zeit über fixiert sind. Verbunden mit der subjektiven lassen sich so in einem Prozeß der subjektiven Sammlung auch die eingangs erwähnten Prinzipien der Besonnenheit, Progressivität, Ehrfurcht und Bereitschaft aufspüren, wie geworfene Würfel verkörpert sich das fixierte Schema nach und nach. Genauer will ich auf diese Dinge aber nicht eingehen, das sei der Erfahrung jedes Einzelnen überlassen, nur soviel sei noch gesagt, daß man den Verstand auch ohne Reflexion der Gegenwart ausschalten kann, was aber lediglich eine vollere Anschauung bewirkt. Auch muß, damit eine Kontemplation eine Wirkung entfalten kann, der Wunsch dazu vorhanden sein. Es handelt sich also um eine spezielle Form der Besinnung, nämlich Besinnung bei überfordertem Verstand.

Denken nun, soweit wir es verstehen, besteht aus lauter Schritten der Besinnung, sei es, daß wir uns erinnern, uns etwas vorstellen, etwas reflektieren oder nach einem entsprechenden Begriff suchen, wohl gar auch nur einer assoziierten Anschauung. Eine genauere Betrachtung sei auf später verschoben, hier geht es nur darum zu verstehen, wie Anschauung, Verstand und Vernunft in unserem Denken zusammenwirken und auf welche Weise sich uns dieser Vorgang zu erkennen gibt, nämlich vermittels der Leistung unseres Verstandes.

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Gegenstände, welche uns die Anschauung gibt, nennen wir auch Anschauungsgegenstände, lediglich in einem Anschauungsgegenstand verbundene Gegenstände hingegen Verstandesgegenstände. Die einfachsten Beispiele für Verstandesgegenstände sind Lagen und Farben, welche in farbigen Flächen verbunden sind.
Die Nachbildungen des Wahrgenommenen, auf sinnlichem oder sonstigem Wege Wahrgenommenen werden durch das Entstandensein aus unseren Anschauungsanstrengungen erklärt. Wenn wir einen Traum nicht von der Gegenwart unterscheiden können, so liegt es in der Tat daran, daß wir uns während des Träumens unserer Anstrengungen nicht bewußt sind, und indem wir uns im Traum auf unsere Anstrengungen besinnen, können wir ihn auch als solchen erkennen und uns zugleich aufwecken.

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