Bereitschaftsbeitrag

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4. September 2015

Sozialität

Ich werde den Blick in diesem Beitrag auf die allgemeine Situation menschlicher Lebensführung weiten, nachdem ich bisher den Blick auf selbständige Menschen, also solche, deren Weg durch ihren Charakter bestimmt ist, verengt hatte, welche mein Persönlichkeitstest auch einzig erfaßt. Wenn die Persönlichkeit fehlt, liefert er keine vernünftigen Ergebnisse.

Es gibt aber noch zwei andere Arten der Lebensführung, welche ich bisher nur gestreift habe, und bei diesem Streifen habe ich darüberhinaus überwiegend auf ihre Pathologien geachtet. Dieses möchte ich nun ändern.

Ein Mensch lebt selbständig, das heißt, er sucht für sich persönlich Einsicht, vergleiche den vorigen Beitrag, oder er lebt verbunden, das heißt, er sucht Einsicht als Teil einer sich über ihr definierenden Gruppe, oder er lebt geregelt.

Das Schicksal der geregelt lebenden Menschen hatte ich zuletzt einigermaßen entpathologisiert, nachdem ich mich zuvor ausschließlich mit dem Fall beschäftigt hatte, in welchem der geregelt Lebende zeitlebens nicht über ein vorsichtiges das Leben Ausprobieren hinauskommt.

Die geregelt Lebenden Menschen brauchen eine Autorität, welche ihnen Regeln gibt, die Einhaltung der Regeln überwacht und die Übertretung der Regeln bestraft, damit sie sich assistierend in die Gemeinschaft einbringen, fehlt diese Autorität, so verschließen sie sich, weil sie der Gemeinschaft grundsätzlich mißtrauen. Im Vorherein ist ihnen dies keineswegs bewußt, aber im Nachhinein stellt sich heraus, daß ihnen die Begleitumstände der Freiheit mißbehagen, siehe auch die Beiträge Vom nöt'gen Geleit und Die Gnade der Autorität.

Es handelt sich bei diesen Menschen auch, aber nicht nur, um die dümmsten Menschen. In ihrer Natur liegt eine tiefe Demut, welche sich nach Anerkennung sehnt, und die Freiheit verdirbt die Natur derer, welche sie zu spenden in der Lage sind, weil Freiheit bedeutet, einen Menschen für seinen Mangel an Edelkeit nicht herabzusetzen.

Die Rede ist hier offensichtlich von sittlicher Freiheit. Indes, sittliche Übereinkunft und Strenge können sich ohne eine mit ihnen befaßte und allgemein anerkannte Autorität schwerlich durch die Abfolge der Generationen hindurch erhalten. Die Geschichte zeigt, dies illustrierend, daß der Skandal sich dort am hartnäckigsten hält, wo er ohne Widerstand zu haben ist, bis er nur noch zur Vernichtung Wehrloser antritt, und also zunehmend weniger vor der Kraft der ihm Auszuliefernden zu schützen vermag.

Edelkeit, das kann man auch umgekehrt sagen, besteht gerade in der Fähigkeit, dem Demütigen Anerkennung zu spenden, und je demütiger er ist, desto größer muß sie sein. Edelkeit bedeutet, Schönes, Wesentliches und Mächtiges genug zu besitzen, um das Herz des Demütigen zu füllen, beispielsweise durch Einsichten, Aufgaben und Techniken. Indes, die Selbständigen sind gerade deshalb selbständig, weil ihre Demut zu groß für die Edelkeit der Menschen ist, wodurch sie indes auch heimlicher ist: Der geregelt Lebende nimmt, wenn es darauf ankommt, auch was er nicht verdient an, der Selbständige nicht.

Das Erspüren der eigenen Erwartung und der Versuch, das Beschlossene durch die eigene Auslieferung an eine Variante zu bestimmen, ist eine Technik, deren Beschreibung ich weitergebe, ihr Gelingen wird aber stets von Gott gegeben, setzt also Selbständigkeit voraus, wenigstens in jenem Augenblick.

Doch kommen wir nun zu den verbunden Lebenden. Meine Beiträge zu ihnen werden durchgehend von Abscheu und Haß gekennzeichnet, was in Ansicht des vorigen Beitrags indes keinesfalls die allgemeine Haltung zu ihnen sein kann.

Ich habe ihnen vorgeworfen, sich einem lächerlichen Zerrbild an den Hals zu werfen, glücklich darüber zu sein, wenn ihnen jemand die Möglichkeit gibt, sich dieselbe Fratze aufzusetzen, welche die Gruppenzugehörigen verunstaltet.

Der Grund dafür ist, daß ich ganz bestimmte Gruppen vor Augen hatte, Gruppen freilich, welche heute auch fast ausschließlich anzutreffen sind.

Wie ich sagte, ist jeder Gruppe, welche Einsichten teilt und weiterentwickelt, ihr Fortbestand wesentlich. Allerdings ist damit nichts darüber gesagt, welches Gewicht diese Wesentlichkeit gegenüber der Schönheit der Einsichten hat, um welche sich die Gruppe schart. Die traurige Wahrheit ist, dieses Gewicht nimmt im Laufe der Zeit zu, und jede solche Gruppe durchläuft also die folgenden vier Corpsgeister:
  1. Träumerisch,
  2. sportlich,
  3. schwül,
  4. parteiisch.
Am Anfang herrscht die Schönheit ungetrübt, dann gesellt sich ihr ein Leistungsaspekt zu, um den Fortbestand der Gruppe zu sichern. Darauf folgt eine Phase, in welcher die Versuchung, die Macht, welche Gruppenzugehörigkeit und Stellung innerhalb der Gruppe mit sich bringen, auszunutzen, schwer über der Gruppe liegt. Und schließlich wird die Ausnutzung dieser Macht zur Verfahrensordnung und Notwendigkeit.

Jugendliche, auch wenn sie zur Selbständigkeit oder Geregeltheit neigen, suchen eine Zeit lang solche Gruppen, um einen Begriff davon zu gewinnen, auf welchen Einsichten die Gesellschaft, in welcher sie leben, beruht, und es ist gerade dieser Trieb, welcher qua Schadenfreude der Neigung von Kindern, geheime Clubs zu bilden, wie es etwa Enid Blyton beschreibt, zu Grunde liegt, denn natürlich sammeln solche Clubs in der Realität keinerlei Einsichten, welche die Zugehörigkeit zu ihnen etwas wert machen würden und beziehen ihren Reiz also ausschließlich aus dem Umstand anderen vormachen zu können, solche Einsichten zu besitzen, beziehungsweise daraus, sich gemeinsam vorzustellen, sie zu besitzen, was freilich nicht dasselbe wie Schadenfreude ist, aber in der Form auch nur bei sehr kleinen Kindern anzutreffen sein dürfte.

Schließlich aber läßt ein Jugendlicher diese Fiktionen hinter sich zurück und geht auf die Jagd nach den Gruppen, in welchen sich das Wissen der Gesellschaft sammelt, und es ist eine schreckliche Erfahrung, wenn er dabei nichts außer Schwülheit und Parteiischkeit vorfindet, wie etwa in Hamburg, welches diesbezüglich noch nicht einmal schlecht dasteht, da es sogar außerhalb des universitären Bereichs stellenweise schwül ist, wohingegen andere deutsche Städte die Phase ihrer bürgerlichen Selbstgestaltung, sofern sie je eine hatten, längst vergessen haben und jedes ihrer Vorhaben aus Parteiischkeit entspringt.

Freilich, einige Städte, insbesondere die kleineren, wie etwa Kiel, sind sozusagen von Fremden besetzt, deren Parteiischkeit sie achselzuckend hinnehmen, doch wirklich besser wird dadurch, jedenfalls im Augenblick, auch nichts, und über ihn hinaus besteht die Gefahr, daß ihre Besetzer heimisch werden.

Im universitären Bereich muß man aber mehr verlangen, denn er ist für die Jugend ausgewiesen und Sportlichkeit ist das Wenigste, was ein Student erwarten sollte.

Doch, Wunder über Wunder, die wenigsten Studenten verlangen mehr. Vielmehr scheinen sie in Schwülheit und Parteiischkeit zu Hause zu sein. Freilich, nicht wenige zeigen eine militärische Sportlichkeit, das ist, eine Parteiischkeit, welche Klimmzüge macht, um als sportlich zu gelten.

Doch diese sorgsam dosierte Zurschaustellung der eigenen Fähigkeiten dient nicht der Entwicklung der Gruppe, sondern einzig dem Zweck, seine eigene Stellung in ihr zu rechtfertigen. Kameraderie bedeutet, als Teile eines Ganzen zu funktionieren, sie bedeutet nicht, den größten Dienst an der Gemeinschaft zu ehren. Wahre Sportlichkeit erkennt man daran, daß sie wie die Träumerischkeit, mit welcher man sie schwerlich verwechseln kann, aber im Gegensatz zu Schwülheit und Parteiischkeit mit offenen Armen auf Fremde zugeht, um sie in die Gruppe aufzunehmen.

Letztere schotten die Gruppe ab, die Schwülheit mehr, um Zeugen zu vermeiden, welche inneren Machtmißbrauch zur Sprache bringen könnten, die Parteiischkeit aus quasimilitärischen Erwägungen.

In einer solchen Mischung aus Sumpf und Schlachtfeld also jemanden zu finden, welcher Fehl am Platz ist, weil er die Schönheit geteilter Einsicht begreift, ja, nicht nur das, sondern vielmehr erwartet, noch neue Kapitel aufzuschlagen und nicht das angehäufte Kapital gewinnbringendst zu investieren oder gar nur zu verwalten, ist leider eine absolute Ausnahmeerfahrung, welche gerade darum aber auch die Verpflichtung mit sich bringt, sich um das zu kümmern, was die Welt übergeht.

Nun, mich stimmt es eher froh als bedenklich, daß der Himmel alles weiß.

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