Bereitschaftsbeitrag

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5. September 2016

Der Werdegang der Hochreligionen

Die Rituale primitiver Völker richten sich auf das augenblickliche Gruppenwohl. Gott erscheint hier nicht als leitendes Licht, sondern als schmelzendes Feuer.

Der Grund hierfür liegt darin, daß diese Völker ihr Leben als Auseinandersetzung verstehen. Doch als Völker damit begannen, die Weite des Raumes und das zeitlich Ferne als Probleme für sich aufzufassen, verlagerte sich ihre Lebensauffassung hin zur Wappnung und Gottes Beistand hin zur Eingebung, und Gott wurde Licht.

Diese Verlagerung hinterließ indes eine Leere an der Stelle der so verwaisten Erfahrung der eigenen Erhörtheit, denn die Inspiration geht der eigenen Erfahrung stets voran, ohne daß wir je das bestimmte Gefühl hätten, daß sie uns erst aufgrund unserer sich gebildet habenden Fragen eingegeben werden konnte.

An dieser Stelle nun geht der Platonismus den Weg der Reflexion des eigenen Anklangs*, erwartet also kein Gehör, sondern postuliert, daß sich in unserer Wertung bereits sich vollziehende Wirkungen zeigen, also daß sich in Freud und Leid Schicksalsgötter ankündigen, in der Freude die Gunst und im Leid die Rache.

Auch wenn diese Ansicht so falsch nicht ist, da Gebete nicht bewußt ausgesprochen werden müssen, weicht sie doch der Frage nach der natürlichen Stelle, an welcher Gott nach unserer neuen Lebensauffassung anzurufen ist, aus. In dieser Ungewißheit sind einige Völker, insbesondere asiatische, dazu übergegangen, sich rituell Nöten auszusetzen, um die Erfahrung der eigenen Erhörtheit am Leben zu erhalten, und auch heute noch ist diese Übung verbreitet.

Doch nach einiger Zeit haben die Hochreligionen die Antwort auf jene Frage gefunden: In der Inspiration liegt ein Auftrag zur Wappnung, stoßen wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten, ihm nachzukommen, ist es an uns zu beten. Die Krisis wird also vorverlegt, vom Augenblick der Auseinandersetzung zum Augenblick der Einsicht in das Unausweichliche, und das spirituell Relevante daran ist, daß Gott diese Vorverlegung erlaubt, daß er auch in dieser Lage als schmelzendes Feuer wirkt, welches neue Wege öffnet.

* Mein Sohn hat mir kürzlich das Ausmaß meines Anklangs vor Augen geführt: Er meinte, Weihrauch rieche nach Holzrauch, eine Orgel heule und die improvisierten Ornamente einer bedächtigen Melodie seien dem Wunsch zu lärmen entsprungen. Als ich zum ersten Mal Tristan und Isolde hörte, zeigte ich ein ganz ähnliches Unverständnis. Alle Dinge sind uns etwas, werden von uns zu etwas gemacht oder von uns entschlüsselt, und es ist durchaus befriedigend, diese Bedeutungen Revue passieren zu lassen, denn unweigerlich tritt uns auf diese Weise das vor Augen, wofür wir leben, und zwar als verfestigter Teil unserer eigenen Person.

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