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11. August 2012

Ästhetik versus Willen

Hans Ulrich Gumbrecht hat einen im Grunde sehr interessanten Beitrag in seinem Blog veröffentlicht, welchen ich nur zu gerne aufgreife, Europas (doppelte) Müdigkeit.

Das ist natürlich Schopenhauers These, daß ein Genie sich dadurch auszeichnet, daß es die Welt objektiv, also seinem eigenen Willen enthoben betrachtet.

Der stimme ich auch zu. Eine Enthebung aus dem eigenen Willen, dem eigenen Schweißgeruch, ist unbedingt nötig, um ein Werk von allgemeinem ästhetischen Wert zu schaffen, erst dadurch wird es möglich, wesentlichere, allgemeinere Willenskräfte offenzulegen.

Und auch wenn nicht jeder ein Genie ist, so kennt vielleicht doch jeder den Unterschied zwischen Siegeswillen und der Hingabe an die einen umgebende Atmosphäre, eine Atmosphäre, welche sich für Gruppen Formen läßt, sei es als Unternehmensphilosophie oder auch als Mannschaftsgeist.

In dieser Hingabe wirkt durchaus das selbe Prinzip, welches in der Schaffung von Kunst wirkt, nämlich die Aufspürung einer Idee um ihretwillen, der Unterschied besteht freilich darin, daß der Künstler einen persönlichen Bezug zu dieser Idee hat, weiß, oder wenigstens ahnt, warum er sie sucht, während der sich seiner Umgebung Hingebende passiv ist.

Nun mag derjenige, welcher die Atmosphäre in einer Gruppe gestaltet, aber ein Künstler sein, und wenn er das ist, ist die sich dieser Atmosphäre hingebende Gruppe ein Kunstwerk. Herr Gumbrecht vermeint, solches von Joachim Löw sagen zu können. Vielleicht hat er auch Recht. Einen kategorischen Fehler oder eine Monstrosität begeht er jedenfalls nicht, wenn er Sportmannschaften der Ästhetik unterwirft, denn selbstverständlich durchdringt die Ästhetik den Sport, beim Turmspringen, Eiskunstlauf, Tanzen, Reiten, beim Sprung von der Skischanze, und wenn sie zum Erfolg beim Fußball führt, warum dann nicht auch ihn?

Am Arbeitsplatz ist das aber schon was anderes. Wenn in einem Unternehmen eine Atmosphäre gestaltet wird, um das Wirken seiner Angestellten in ein Kunstwerk zu verwandeln, begibt sich dieses Unternehmen in den Bereich des Monströsen. Wenn Staaten das tun, und es ist schon passiert, nicht wahr?, gilt dies umso mehr. Dabei mag es durchaus, wie die Geschichte beweist, ausgesprochen erfolgreich sein. Aber das ist keine Entschuldigung.

Nun sieht Herr Gumbrecht die Ästhetik freilich weniger in den Nürnberger Parteitagen als im diversen New York, um ein Beispiel zu geben. Er beschwört die sich ergebende Atmosphäre einer von vielfältigen Strömungen bestimmten Metropole.

Aber ich denke, er irrt sich da. Diese Atmosphäre ergibt sich nicht, auch diese Atmosphäre wurde geformt, ist letztlich nichts weiter als der Mantel, welchen der Tanz um das goldene Kalb, die Anbetung des Geldes als des gerechtesten Richters der Menschen, zurzeit trägt.

Und damit sagt Herr Gumbrecht nur, was sie alle sagen, welche Amerikas Charme erlagen, daß Amerika spannend ist, unglaublich lebendig, kreativ, entschlossen, risikobereit.

Einzig, daß er glaubt, es sei der vielfältigen amerikanischen Bevölkerung geschuldet und nicht den niedrigen Steuern und der mangelnden Bürokratie.

Freilich, diese Atmosphäre wurde ohne ästhetische Hintergedanken geformt, und doch entwickelt sich aus der Hingabe der Amerikaner an sie tatsächlich eine Art Kunstwerk, etwas immens ästhetisches, weil hier eine Idee so klar zur Form gerinnt.

Ihr Monströses zeigt sich indes auch zusehends deutlicher. Die Hingabe von Massen an eine Atmosphäre endet zwangsläufig da. Für den Einzelnen freilich kann es leicht zu einer Sucht werden. Man ersetzt die Suche nach der eigenen rechten Stimmung durch die draußen aufgesaugte Atmosphäre.

Freilich gibt es an jedem Ort eine Atmosphäre, aber die wenigsten Atmosphären sind sonderlich einladend. Wenn ich es mir recht bedenke, ist es wohl so, daß nur die Verheißung einer Expansion eine Atmosphäre erzeugt, welche Massen dazu bringt, sich ihr hinzugeben. Aber diese Art der schnellen Expansion mündet in Unausgewogenheit und Zerfall. Wahrscheinlich ist Amerika noch nicht einmal das beste gegenwärtige Beispiel hierfür, sondern Saudi-Arabien.

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