Die kulturelle Situation Deutschlands
Je länger ich das Glasperlenspiel lese, und ja, ich lese es, trotz des weitschweifenden, wenig sagenden Erzählstils, immerhin!, desto mehr lastet auf meiner Brust ein Gefühl unbestimmter Verzweiflung.
Ich erinnere mich an einen Urlaub in den französischen Alpen, free climbing, die schwierigste Route hieß Radio Bagdad, ich schrieb etwas peinliche Liebesgedichte in deutscher Schrift und grüner Tinte, und die Ingenieursgattin, welche mir einen meiner Zettel, welchen ich offenbar verloren hatte, zurückgab, konnte sie wahrscheinlich sogar lesen. Ihr Mann las das Glasperlenspiel. Ob ich das gelesen hätte? Nein, worum es ginge? Ach, das sei schwer zu sagen.
Eines Tages gab mir meine Mutter eine Gesamtausgabe von Hesses Werken. Ist von Willi G. Hat er dir geschenkt. Warum schenkt mir Onkel Willi eine Gesamtausgabe von Hesses Werken? Er meinte, sie würden dir gefallen. Also Unterm Rad hat mir ganz und gar nicht gefallen.
Da war ich wohl schon 30 und Willi G. ist nicht mein Onkel, sondern ist, oder auch war, ein Freund der Familie, so genau weiß ich das nicht, denn mittlerweile wäre er schon 88 Jahre alt. Onkel Willi also wollte damals '41 Panzerschütze werden, freiwillig, und mein Urgroßvater hat ihn nicht gelassen. '43 wurde Willi dann so oder so eingezogen, aber er kam zurück. Und seitdem blieb er ein Freund der Familie, was schließlich darin gipfelte, daß ich die Hesse Gesamtausgabe bekam.
Die Fäden des Schicksals.
Übrigens ist wohl niemand im Umfeld meines Großvaters im Feld geblieben, so verlustreich der Krieg auch sonst gewesen sein mag. Unkraut vergeht nicht. Gerne und oft gesagt. Freilich, nicht alle dachten so. Die große Zeit. Der andere Onkel Willi, Willi B. Wie das alles kam. Erst war's nur sein Bruder Hermann. Ging zur SA für ein besseres Deutschland. Nichts auf Onkel Hermann! Idealist, bescheiden. Hat der Führer selbst ausgewählt! Und dann lernte man die Pläne im Osten kennen, Güter, Mägde, Knechte. Kann nicht jeder Idealist sein. Und doch, die Wehrmacht, die Kameradschaft. Etwas.
Was schadet schon Demenz dem Fazit?
Deutschland heute, seltsam anders gleich. Wirklich kennen tun die Deutschen nur die katholischen Völker, Spanier, Franzosen und Italiener, ja gut, und die Holländer. Engländer, entfremdet, wo immer es die Medien können, Russen gleich ganz ins Reich der Märchen verbannt. So katholisch sind wir, so an die romanische Welt gebunden. Oder doch nicht? Nein, denn nebenher überhöhen wir eifrig die Skandinavier, dabei haben die allen Grund sich an Holland und uns zu orientieren, was sie auch tun, und bei Wickie legen die Holländer die Wikinger noch jedesmal rein.
Ford's Managementideen, die Fortführung der Selbststilisierung der britischen Aristokratie, seit Hitler deutscher Volksglauben, losgelöst vom historischen Kontext, red herring der innenpolitischen Kämpfe.
Zugleich ein Korsett, die nationale Ausrichtung auf das Kerneuropa der abendländischen Kultur mit gönnerhafter Eingemeindung der nördlichen Nachbarn. Freilich, nicht aus Überzeugung, aus Machterwägungen. Diese hängen drin und können nicht anders. Es wird sich doch schon etwas daraus formen lassen.
Aber was.
So gut der mechanische Unterbau geölt ist, die kulturelle Substanz zerfällt. Wo alles nur nach seinem Wert für die Mechanik ermessen wird, da wird alles Zahnrad und Hebel. Die Leute müssen ja, sonst sind sie weg vom Fenster. Feigheit in der Masse erzeugt noch stets die Gefahr, vor welcher sie flieht.
Es ist die konkrete Bestätigung dafür, daß Machtverteilungen aus Glaubensverteilungen erwachsen und nicht Glaubensverteilungen aus Machtverteilungen. Gewiß, wer in einer Machtstruktur steht, ist blind gegenüber Glauben, aber es ist der Glaube, welcher die Anschlußfähigkeit einer Machtstruktur bestimmt.
Was noch funktionslos durch den Kreislauf der deutschen Kultur treibt, gleicht Eisschollen im beginnenden Frühling, eben wie das Glasperlenspiel.
Da gibt es doch überhaupt keinen Kontext mehr! Im Dritten Reich gab es immerhin noch pädagogische Provinzen, in den Wald gebaute Internate. Wieso lesen die Leute weiterhin dieses Buch? Wahrlich, ich lese es aus reiner Perplexität über diesen Sachverhalt heraus. Gewiß, Eliteschulen gibt's auch heute noch oder wieder, aber darum geht's doch nicht, auch wenn zweifellos ein Text wie der des Glasperlenspiels allezeit mit der Gestaltung von Bildungswesen Beauftragten für ihre Arbeit relevant erscheint und insbesondere in Nachkriegsdeutschland so erschienen sein wird.
Das ist läßlich. Sollen sie doch ihre Arbeit überhöhen. Aber relevant ist es nicht. Hesse propagiert ja nicht ernsthaft eine an ihren eigenen inneren Zusammenhang im eigentlichen Sinne gläubige Wissenschaft. Sicher, ich kenne da einen Privatdozenten, welcher ständig davon faselt, aber auch nur, um die Wichtigkeit seines eigenen Spezialgebiets, der Kategorientheorie (tja, Pech gehabt), zu betonen. Und so wird er auch nicht gelesen, auch von denen nicht, welche in dieser Angelegenheit tätig werden könnten und sich doch nur ein paar Phrasen herauspicken, um sich mit ihnen zu schmücken. Nein, Hesse geht es um die Entfaltung von Kultur von einem Kern aus als solche. (Und diesbezüglich ist es eben konkret so, daß die Kategorientheorie nicht Kern der Entfaltung, sondern nachträgliches Vergleichen ist. Soll heißen: Die Kategorientheorie versucht der gemeinsame Nenner zu sein, wie das Glasperlenspiel, ist aber nur unproduktiver Anhang, wie jenes, würde es konkretisiert, voraussichtlich auch.)
Dabei ist seine Sprache sehr unsentimental und erscheint deswegen wohl modern. Aber substantiell ist das Glasperlenspiel ein rückwärtsgewandtes Buch. Alles, was Hesse als konkrete Ausformungen einer ästhetischen Grundstimmung anführt, entspringt der Vergangenheit, seiner Vergangenheit. Und ich glaube auch nicht, daß Hesse ernsthaft der Meinung war, die Welt möge sich in ein Museum verwandeln.
Das alles sind Eisschollen, längst zerschlagen und abgetrennt, während sich der Verwertungsgedanke immer weiter in unser aller Leben frißt. Und von allen Dingen, welche sich ihm in den Weg stellen könnten, wäre etwas von der Art des Glasperlenspiels das so ziemlich in jeder Hinsicht Unwahrscheinlichste. Daß sich die intellektuellen Eliten wohl am liebsten auf so etwas stürzen würden, mag schon sein, aber darin glichen sie Kindern, welche sich auf den Ball stürzen, welchen ihnen jemand weggenommen hat.
Hesse war wohl vom Ungeist damals so beunruhigt, daß er meinte, der Geist würde sich ganz verflüchtigen, aber dazu ist es noch nicht einmal in Deutschland selbst gekommen. Nein, die Formen wandeln sich, und nur langsam wirkt sich der zunehmde Rückzug der Wissenschaftler aus ihrer Verantwortung für das öffentliche Bewußtsein aus, wird im Laufe einiger Generationen dazu führen, daß die Menschen nur noch das wissen, was ihre Verwertbarkeit fördert. Und wenn es schließlich soweit wäre, freilich, vorher würde es zur Kurzweil'schen Singularität kommen, begänne erst das Absterben der intellektuellen Elite einer jeden neuen Generation, bis das geschaffene Monstrum schließlich nach einigen Jahrhunderten zusammenbräche.
Kastalien liegt also nicht in Sicht, und wer in den ´70ern meinte, es schon zu sehen, übersah den Bezug zur Realität. Und da ist sie wieder, diese Betrüblichkeit. Auf einmal meinen alle, etwas zu haben, fangen an, um es herum anzubauen.
Erbärmliche Geschichte. Stürzen sich auf Brocken, beginnen sie aus Schwachsinn zu deuten. Gott behüte uns vor denen, welche alles und noch den letzten Unsinn verstehen.
Wer schafft der Tollheit Strom ein Bett, darein sie sich ergieße?
Das Bett, was war, wird mit jeder neuen Flut weiter zersetzt. Das sind die Eisschollen, das ist die kulturelle Situation Deutschlands.
Ich erinnere mich an einen Urlaub in den französischen Alpen, free climbing, die schwierigste Route hieß Radio Bagdad, ich schrieb etwas peinliche Liebesgedichte in deutscher Schrift und grüner Tinte, und die Ingenieursgattin, welche mir einen meiner Zettel, welchen ich offenbar verloren hatte, zurückgab, konnte sie wahrscheinlich sogar lesen. Ihr Mann las das Glasperlenspiel. Ob ich das gelesen hätte? Nein, worum es ginge? Ach, das sei schwer zu sagen.
Eines Tages gab mir meine Mutter eine Gesamtausgabe von Hesses Werken. Ist von Willi G. Hat er dir geschenkt. Warum schenkt mir Onkel Willi eine Gesamtausgabe von Hesses Werken? Er meinte, sie würden dir gefallen. Also Unterm Rad hat mir ganz und gar nicht gefallen.
Da war ich wohl schon 30 und Willi G. ist nicht mein Onkel, sondern ist, oder auch war, ein Freund der Familie, so genau weiß ich das nicht, denn mittlerweile wäre er schon 88 Jahre alt. Onkel Willi also wollte damals '41 Panzerschütze werden, freiwillig, und mein Urgroßvater hat ihn nicht gelassen. '43 wurde Willi dann so oder so eingezogen, aber er kam zurück. Und seitdem blieb er ein Freund der Familie, was schließlich darin gipfelte, daß ich die Hesse Gesamtausgabe bekam.
Die Fäden des Schicksals.
Übrigens ist wohl niemand im Umfeld meines Großvaters im Feld geblieben, so verlustreich der Krieg auch sonst gewesen sein mag. Unkraut vergeht nicht. Gerne und oft gesagt. Freilich, nicht alle dachten so. Die große Zeit. Der andere Onkel Willi, Willi B. Wie das alles kam. Erst war's nur sein Bruder Hermann. Ging zur SA für ein besseres Deutschland. Nichts auf Onkel Hermann! Idealist, bescheiden. Hat der Führer selbst ausgewählt! Und dann lernte man die Pläne im Osten kennen, Güter, Mägde, Knechte. Kann nicht jeder Idealist sein. Und doch, die Wehrmacht, die Kameradschaft. Etwas.
Was schadet schon Demenz dem Fazit?
Deutschland heute, seltsam anders gleich. Wirklich kennen tun die Deutschen nur die katholischen Völker, Spanier, Franzosen und Italiener, ja gut, und die Holländer. Engländer, entfremdet, wo immer es die Medien können, Russen gleich ganz ins Reich der Märchen verbannt. So katholisch sind wir, so an die romanische Welt gebunden. Oder doch nicht? Nein, denn nebenher überhöhen wir eifrig die Skandinavier, dabei haben die allen Grund sich an Holland und uns zu orientieren, was sie auch tun, und bei Wickie legen die Holländer die Wikinger noch jedesmal rein.
Ford's Managementideen, die Fortführung der Selbststilisierung der britischen Aristokratie, seit Hitler deutscher Volksglauben, losgelöst vom historischen Kontext, red herring der innenpolitischen Kämpfe.
Zugleich ein Korsett, die nationale Ausrichtung auf das Kerneuropa der abendländischen Kultur mit gönnerhafter Eingemeindung der nördlichen Nachbarn. Freilich, nicht aus Überzeugung, aus Machterwägungen. Diese hängen drin und können nicht anders. Es wird sich doch schon etwas daraus formen lassen.
Aber was.
So gut der mechanische Unterbau geölt ist, die kulturelle Substanz zerfällt. Wo alles nur nach seinem Wert für die Mechanik ermessen wird, da wird alles Zahnrad und Hebel. Die Leute müssen ja, sonst sind sie weg vom Fenster. Feigheit in der Masse erzeugt noch stets die Gefahr, vor welcher sie flieht.
Es ist die konkrete Bestätigung dafür, daß Machtverteilungen aus Glaubensverteilungen erwachsen und nicht Glaubensverteilungen aus Machtverteilungen. Gewiß, wer in einer Machtstruktur steht, ist blind gegenüber Glauben, aber es ist der Glaube, welcher die Anschlußfähigkeit einer Machtstruktur bestimmt.
Was noch funktionslos durch den Kreislauf der deutschen Kultur treibt, gleicht Eisschollen im beginnenden Frühling, eben wie das Glasperlenspiel.
Da gibt es doch überhaupt keinen Kontext mehr! Im Dritten Reich gab es immerhin noch pädagogische Provinzen, in den Wald gebaute Internate. Wieso lesen die Leute weiterhin dieses Buch? Wahrlich, ich lese es aus reiner Perplexität über diesen Sachverhalt heraus. Gewiß, Eliteschulen gibt's auch heute noch oder wieder, aber darum geht's doch nicht, auch wenn zweifellos ein Text wie der des Glasperlenspiels allezeit mit der Gestaltung von Bildungswesen Beauftragten für ihre Arbeit relevant erscheint und insbesondere in Nachkriegsdeutschland so erschienen sein wird.
Das ist läßlich. Sollen sie doch ihre Arbeit überhöhen. Aber relevant ist es nicht. Hesse propagiert ja nicht ernsthaft eine an ihren eigenen inneren Zusammenhang im eigentlichen Sinne gläubige Wissenschaft. Sicher, ich kenne da einen Privatdozenten, welcher ständig davon faselt, aber auch nur, um die Wichtigkeit seines eigenen Spezialgebiets, der Kategorientheorie (tja, Pech gehabt), zu betonen. Und so wird er auch nicht gelesen, auch von denen nicht, welche in dieser Angelegenheit tätig werden könnten und sich doch nur ein paar Phrasen herauspicken, um sich mit ihnen zu schmücken. Nein, Hesse geht es um die Entfaltung von Kultur von einem Kern aus als solche. (Und diesbezüglich ist es eben konkret so, daß die Kategorientheorie nicht Kern der Entfaltung, sondern nachträgliches Vergleichen ist. Soll heißen: Die Kategorientheorie versucht der gemeinsame Nenner zu sein, wie das Glasperlenspiel, ist aber nur unproduktiver Anhang, wie jenes, würde es konkretisiert, voraussichtlich auch.)
Dabei ist seine Sprache sehr unsentimental und erscheint deswegen wohl modern. Aber substantiell ist das Glasperlenspiel ein rückwärtsgewandtes Buch. Alles, was Hesse als konkrete Ausformungen einer ästhetischen Grundstimmung anführt, entspringt der Vergangenheit, seiner Vergangenheit. Und ich glaube auch nicht, daß Hesse ernsthaft der Meinung war, die Welt möge sich in ein Museum verwandeln.
Das alles sind Eisschollen, längst zerschlagen und abgetrennt, während sich der Verwertungsgedanke immer weiter in unser aller Leben frißt. Und von allen Dingen, welche sich ihm in den Weg stellen könnten, wäre etwas von der Art des Glasperlenspiels das so ziemlich in jeder Hinsicht Unwahrscheinlichste. Daß sich die intellektuellen Eliten wohl am liebsten auf so etwas stürzen würden, mag schon sein, aber darin glichen sie Kindern, welche sich auf den Ball stürzen, welchen ihnen jemand weggenommen hat.
Hesse war wohl vom Ungeist damals so beunruhigt, daß er meinte, der Geist würde sich ganz verflüchtigen, aber dazu ist es noch nicht einmal in Deutschland selbst gekommen. Nein, die Formen wandeln sich, und nur langsam wirkt sich der zunehmde Rückzug der Wissenschaftler aus ihrer Verantwortung für das öffentliche Bewußtsein aus, wird im Laufe einiger Generationen dazu führen, daß die Menschen nur noch das wissen, was ihre Verwertbarkeit fördert. Und wenn es schließlich soweit wäre, freilich, vorher würde es zur Kurzweil'schen Singularität kommen, begänne erst das Absterben der intellektuellen Elite einer jeden neuen Generation, bis das geschaffene Monstrum schließlich nach einigen Jahrhunderten zusammenbräche.
Kastalien liegt also nicht in Sicht, und wer in den ´70ern meinte, es schon zu sehen, übersah den Bezug zur Realität. Und da ist sie wieder, diese Betrüblichkeit. Auf einmal meinen alle, etwas zu haben, fangen an, um es herum anzubauen.
Erbärmliche Geschichte. Stürzen sich auf Brocken, beginnen sie aus Schwachsinn zu deuten. Gott behüte uns vor denen, welche alles und noch den letzten Unsinn verstehen.
Wer schafft der Tollheit Strom ein Bett, darein sie sich ergieße?
Das Bett, was war, wird mit jeder neuen Flut weiter zersetzt. Das sind die Eisschollen, das ist die kulturelle Situation Deutschlands.
Labels: 07, geschichte, persönliches, rezension, zeitgeschichte, ἰδέα, φιλοσοφία