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24. September 2013

Scham

Michael Ondaatje meinte einmal, daß ein Mangel an Scham das Kennzeichen eines rücksichtslosen Charakters sei. Das hielt ich nie für plausibel, aber es blieb mir im Gedächtnis, wie es viele bestimmt vorgetragene Meinungen tun, welche einem seltsam erscheinen.

Das Glasperlenspiel ist nun schon das zweite Buch, von zweien, in welchen ich gelesen habe, in welchem Hesse einen schamhaften Jüngling in den Mittelpunkt stellt.

Wenn einer aber ständig davon schreibt, was gut für schamhafte Jünglinge ist und was schlecht, als was kennzeichnet ihn das?

Dabei ist mir Hesse weit unangenehmer als es mir Platon ist, bei welchem sich zu diesem Thema selbstverständlich auch eine ganze Menge findet, aber Platon macht ja keinen Hehl daraus, daß dieser Wunsch, Jünglinge anzuleiten, der Päderastie entspringt, und nirgends identifiziert er sich mit ihm, selbst in der Politeia bleibt diese Anleitung lediglich eine aus staatstragenden Gründen begrüßte Einrichtung, wobei die Politeia allerdings das problematischste Werk Platons bleibt und das mit Abstand schädlichste in seiner gedanklichen Nachwirkung.

Ja, es ist seltsamerweise so, daß die übrigen Werke Platons die allermeisten Menschen überhaupt nicht zu interessieren scheinen, während von der Politeia eine anhaltende Faszination ausgeht. Die Menschen springen auf das Beispiel, die Anleitung zum sehen, fragen und kombinieren interessiert sie nicht.

Platon war dem päderastischen Treiben gegenüber wahrscheinlich sogar ziemlich kritisch eingestellt, sonst hätte er Aristophanes nicht die Athener Politiker als die zu Männern herangewachsenen Liebesdiener der vorigen Athener Politikergeneration rühmen lassen, so ungefähr mit den Worten: Wer könnte einen besseren Charakter haben als der, wer schon als Knabe alles gemacht hat, was diese von ihm wollten?

Aber solche Feinheiten gehen bei den meisten leicht unter. Bei Hesse hingegen sind das alles Einwände, welche bereits diskutiert und für unwesentlich befunden wurden. Kastalien wird von heiteren Gottmenschen bevölkert, und in einem solchen Umfeld mag es zwar auch hier und da etwas Dämonie geben, aber doch nur ein ganz klein wenig, denn schließlich hat man ja alles, was der Mensch so braucht, einschließlich Sex, nur halt nicht ehelich.

Das ist nun so verschleiernd und irreführend, daß ich Hesse geradezu böse Absicht unterstellen muß. Es geht in geschlossenen Kreisen nie um Triebbefriedigung, es geht um Macht. Konkret zählte in Kastalien ein Spitzenplatz auf der Samenspenderliste weit mehr als ein erfülltes Sexleben. Und es betrifft ja nicht nur die Sexualität. Abgesehen davon, daß Hierarchien, welche umfassende Eingriffe in das Privatleben anderer erlauben, Menschen mit Komplexen und Rachegelüsten anziehen wie Motten das Licht, ist das Klima in einer solchen Organisation das Südostasien der Sadismen- und Perversionenzucht.

Das ist ja auch ein Kernvorzug der Ehe, daß man stets sagen kann: Ich würde ja gerne, aber meine Frau nicht. Darum ist die Ehe nicht gerne gesehen in Kastalien. Das ist der springende Punkt, sie erlaubt die ehrenhafte Befehlsverweigerung. In Kastalien hingegen herrschen jene, welche den Ehrbegriff vorgeben, absolut bis in die kleinsten Einzelheiten des Privatlebens hinein, wenn sie sich auch noch so locker zeigen, das ist nur Schau, die Begierde in einer solchen Einrichtung ist stets, derjenige zu sein, welcher dem anderen die Hand an die Gurgel legt.

Und damit wären wir zurück bei der Scham. Als reifer Mensch schützt einen die Verantwortung für Weib und Kind vor den irregeleiteten moralischen Ansprüchen der Allgemeinheit und als junger Mensch die Scham.

Als reifer Mench kann ich sagen: Gut, ich akzeptiere deine (verrückten) moralischen Ideen an und für sich, aber ich habe nunmal auch an meine Familie zu denken, und als junger: Gut, ich akzeptiere deine (verrückten) moralischen Ideen an und für sich, aber ich schäme mich nunmal.

Das ist die Kontinuität der Sache: Kommen erstmal Kinder, schämt man sich zwar nicht mehr, aber man braucht es dann auch nicht mehr.

Und ernst ist sie, diese Sache. Die Moralisierer sind stets das Werkzeug des Teufels, stets maßen sie sich an, Urteile über Fälle zu sprechen, welche sie nicht kennen. Der Mensch sieht etwas, was ihm nicht gefällt, und dreht sich um, und zwingt andere zu unnützen Verrenkungen. Der Grund dafür ist, daß die Menschen auf einem gemeinsamen gesellschaftlichen Glauben auch dann bestehen, wenn sie nicht dazu in der Lage sind, seine Gestaltung und Verbreitung vernünftig zu betreiben.

Es ist also ein Teufelskreis. Je mehr die Moralisierer der Kirche schaden, desto mehr empfinden die Menschen die Notwendigkeit zu moralisieren.

Der Teufel spricht im Gedanken der Religionsfreiheit, ist die Religion nicht mehr verbindlich, strebt der Mensch dazu, Verbindlichkeit durch Willkür wiederherzustellen, und nur Scham und familiäre Bindungen stehen dem im Weg.

Und wer Mitglied einer Organisation ist, in welcher familiäre Bindungen nicht geachtet und Scham systematisch zum Zwecke vorgeblichen Näherkommens überwunden wird, der braucht etwas anderes, wie die Anerkennung der sich in ihm offenbarenden göttlichen Inspiration, was ihn vor der Meinung der anderen schützt, wenn er nicht gleich allen anderen Mitgliedern ihrer Dynamik ausgeliefert werden soll, und ihre Dynamik zielt auf Tyrannei.

Und darin steckt auch das Kriterium der vernünftigen Religionsgestaltung, also die sich in den Menschen offenbarende göttliche Inspiration anzuerkennen. Konkret heißt das, ihre Sorge, und es ist gut, dies konkret zu wissen, um unwürdige Willensäußerungen von vornherein auszuschließen und würdige auch bei persönlichem Mißfallen jedenfalls für den Anderen anzuerkennen.

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