Bereitschaftsbeitrag

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26. Mai 2020

Glaubensbezügliche Perspektiven

Ich drückte im vorigen Beitrag eine gewisse Unzufriedenheit mit der heute vorherrschenden Geisteshaltung aus, welche ich hinsichtlich der Anwendbarkeit von Verständnissen, oder Perspektiven, wie ich sie in diesem Beitrag nennen möchte, präzisieren werde.

Wir können zunächst einmal drei Anwendungsfälle von Perspektiven unterscheiden, nämlich
  • Zurechtfindung in etwas Unabänderlichen,
  • Abstimmung mit etwas Abänderlichen und
  • Einrichtung von etwas Willkürlichem,
also reine Wahrnehmung, Wahrnehmung und Tat und reine Tat.

Jeden dieser Fälle können wir dann der Motivation nach ein zweites Mal dreiteilen, nämlich ob Vorliebe, (subjektiver) Glaube oder Gewissen die Anwendung leitet, und in sofern sich Perspektiven besonders für einen Anwendungsfall eignen, können wir diese Unterteilung auch auf sie übertragen.

Ein paar Beispiele. Gebete dienen der Abstimmung, einige sind durch Vorliebe motiviert, andere durch Glauben und dritte durch das Gewissen. Und dasselbe gilt für die Perspektiven auf sie. Die Beschreibung der Herrschaftsformen des I Chings dient der Zurechtfindung und ist durch den Glauben motiviert. Vereine der höheren Kommunikation dienen der Einrichtung, und dasselbe gilt für die Perspektiven auf sie.

Die Geisteshaltung unserer Zeit besteht nun darin, vorzuschlagen und das beste aus den Vorschlägen zu bestimmen und zu verbinden - jedenfalls in der Theorie, praktisch findet es selbstverständlich nicht statt, denn es wäre selbstverständlich ein ungeheurer Aufwand. Aber aus dem theoretischen Anspruch ergibt sich die Pflicht, den theoretisch gemeinsamen Beschluß mitzutragen. Praktisch heißt es selbstverständlich nichts anderes, als daß wir alle an die Notwendigkeit den Laden zusammenzuhalten gekettet sind.

Und das gilt für alle posthegelianischen Systeme gleichermaßen, ob Markt- oder Planwirtschaft macht nicht den geringsten Unterschied, weder die eine, noch die andere kann den freien politischen Gestaltungswillen ihrer Teilnehmer kanalisieren, so lange sie die genannte Geisteshaltung teilt.

Doch kommen wir auf die obige Unterteilung der Anwendungsfälle von Perspektiven zurück. Von den neun möglichen Fällen kommen in unseren Gesellschaften nur sechs vor*, weil
  • es nichts bringt, sich seinem Glauben gemäß zurechtzufinden, wenn die Pflicht zur Kooperation glaubensunabhängig ist,
  • glaubensgemäße Abstimmung nur einseitig, bei einem selbst, erfolgen kann und
  • glaubensgemäße Einrichtung nur in Abtrennung von der Gesellschaft möglich ist.
Wir haben aus Bequemlichkeit darauf verzichtet, den gemeinsamen Glauben als leitendes Element zu erhalten, und haben dafür die Quittung bekommen, indem glaubensbasierte Perspektiven ihre gesellschaftliche Funktion verloren haben.

Darin besteht die Breite unserer Gesellschaften, von welcher ich sprach, und die Anwendbarkeit, von welcher ich sprach, ist die Anwendbarkeit von glaubensbezüglichen Perspektiven.

Dabei ist alles, was wir zu unserer Befreiung brauchen, etwas Ehrlichkeit: Es besteht keine natürliche moralische Pflicht, sich der Staatspropaganda gemäß für die Interessen des eigenen Staates einspannen zu lassen. Hörten wir auf, dies gegenseitig von uns zu fordern, gewännen glaubensbasierte Perspektiven sofort ihre soziale Funktion zurück.

* eine glaubensbezügliche Perspektive (x zwingt y) können wir selbstverständlich auch heute noch anwenden, und sie kann an den physikalischen Fakultäten unserer Universitäten studiert werden.

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