Bereitschaftsbeitrag

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22. Mai 2020

Gesellschaftsingenieure

Ich habe ein wenig in Rudolf Christoph Euckens Geistige Strömungen der Gegenwart hineingelesen, und bin doch recht erschüttert, daß er es schafft, zwei Bestrebungen des Menschen so anzufassen, daß ihre Verbindung mehr oder weniger zwangsläufig durch ein menschenverachtendes System zu erfolgen hat, nämlich
  1. den Wunsch, die Welt, in welcher wir leben, möglichst gründlich zu verstehen und zu beherrschen und
  2. den Wunsch, selber darüber zu entscheiden, wie sich unsere Geschichte entwickelt.
Die Wahrheit ist natürlich, daß sich diese beiden Wünsche nicht gleichzeitig erfüllen lassen. Die Wahrheit ist, daß wir sie je nach unserer gegenwärtigen Lage gegeneinander abwägen. Und die Wahrheit ist auch, daß sich, wenn wir eine Weile lang entschieden den einen Wunsch verfolgen, unsere Lage hinsichtlich des anderen verschlechtert.

Hier nun wagt es Eucken zu behaupten, daß Wahrheit dasjenige sei, was politische Einigkeit herstellt, in einem Worte also Propaganda.

Nicht, daß sich Eucken dessen bewußt gewesen wäre. Vielmehr entspringt seine Definition einer Art hegelianischer Fortschrittsgläubigkeit, also in etwa so:
  1. Wir sind die besten Menschen, welche es je gab.
  2. Also sind unsere Bestrebungen auch die besten Bestrebungen, welche es je gab.
  3. Dies könnte aber nicht so sein, wenn der Geist nicht fähig wäre, im Laufe der Zeit gegensätzliche Bestrebungen in eine ihnen überlegene mit sich selbst übereinstimmende Bestrebung zu überführen.
  4. Also ist die Verbindung von Weltherrschaft und Entscheidungsfreiheit möglich.
  5. Da unsere Gefühle aber nicht zu zur Weltherrschaft hinreichender politischer Einigkeit führen, muß es eine andere Entscheidungsgrundlage in unserem Geiste geben, und diese bezeichnen wir als Wahrheit.
Man kann es auch anders sagen: Eucken sieht den Zerfall der politischen Handlungsfähigkeit in Folge des Übergangs der Herrschaft der Achtung zur Herrschaft der Unvernunft und meint, die Philosophie könne die Sorge hinreichend erneuern, um gleich wieder in die Herrschaft der Rücksichtslosigkeit überzugehen und die politische Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.

Genau das ist in Deutschland natürlich auch geschehen, nur daß die Rücksichtslosigkeit nur 12 Jahre hielt, um Berlin herum sogar 56 Jahre, doch in jedem Falle im historischen Maßstab keine bleibende Errungenschaft darstellend.

Das platte Fortschrittsdenken entpuppt sich also als eine Spielart der Kostenschneiderei, bei welcher sich die Betroffenen am Ende fragen, warum bloß ihr mangelhaft zusammengeschusterter Apparat nicht hält.

Und immer dient sich die Philosophie dabei in echter aristotelischer eierlegende Wollmilchsau-Manier an.

Freilich, Eucken dachte an Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und so weiter. Aber das sind Trugbilder. Dadurch, daß von den bestehenden Religionen so weit abstrahiert wird, bis sie alle gleich erscheinen, ist in der Sache wenig gewonnen. Selbstverwirklichung, beispielsweise, hört sich erst einmal schön an, aber wenn sie konkret wird, ist es doch nicht egal, was sich verwirklicht. Politische Einigkeit ist immer das Resultat einer Täuschung, wenn ihr Standpunkt durch die Effizienz des Systems vorgegeben wird, denn es entspricht durchaus nicht der Natur des Menschen, in der Effizienz von Systemen aufzugehen. Echte politische Einigkeit stellt immer einen der Natur der sich Einigen angepaßten Kompromiß aus Freiheit und Notwendigkeit dar.

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