Die geschichtliche Funktion des geduldeten Lasters
Platon erläutert die soziale Funktion des geduldeten Lasters durch den Erweis besonderer Tugend nach vollzogenem Kampftrinken, aber das ist nicht seine geschichtliche Funktion.
Natürlich läßt sich auch an der von Platon behaupteten sozialen zweifeln, wenn man an Ausdrücke wie Miesepeter oder Spielverderber denkt, aber dieser Zweifel berührt die geschichtliche, so daß wir ihm nicht eigens nachspüren müssen.
Es kennzeichnet das Zeitalter der Werke im Gegensatz zum Zeitalter der Wacht, daß die rechte Haltung zur Ausfüllung der verschiedenen gesellschaftlichen Rollen nicht mehr in Form eines Pantheons von ihm verkörperter zu ihnen qualifizierenden Tugenden vorgegeben, sondern individuell entwickelt wird. Allerdings ist es schwierig, dem Einfluß eines einmal etablierten Pantheons zu entkommen, so daß die Haltungsentwicklung tendentiell akademisch bleibt, beziehungsweise in der Antike akademisch geblieben ist. Die germanischen Barbaren waren hingegen unbehauen genug, um wirklich zu neuen Konzepten zu gelangen, wobei eine edle Haltung zu entwickeln zunächst dem Adel vorbehalten blieb.
Anfang des 17. Jahrhunderts verlagerte sich der Fokus aber auf das gemeine Volk, welches nun einerseits vom Adel erzogen und andererseits sich seine Zukunft selbst ausmalend seine Rolle im Reich Gottes suchte, und diese wurde mit der Französischen Revolution rechtskräftig.
Aber während in den 150 Jahren von 1639 bis 1789 diese Rolle wuchs, erstarrte sie fortan, was dem Übergang von der gemeinschaftlichen in die persönliche Phase des Glaubenszykels entspricht, aber deshalb nicht naturgesetzlich ist, sondern vielmehr auf eine bestimmte Weise bewerkstelligt wurde, um welche es in diesem Beitrag geht.
Wie gesagt kann der Katholizismus als eine Bewegung zur Etablierung bestimmter Menschenführungsverhältnisse verstanden werden, gegen welche der Protestantismus, zunächst in Böhmen, protestierte und sie schließlich erfolgreich in Nordeuropa durch andere ersetzte, was letztlich daran liegt, daß die Umgangsfordernden mehr zur Koordination neigen als die Leistungsfordernden und es in Nordosteuropa mehr von ihnen gibt als im Südwesten des Kontinents. Dieser Hang zur Koordination im Verbund mit Idealvorstellungen christlicher Gerechtigkeit macht die betroffenen Gesellschaften politisch dynamisch, was die katholische Kirche organisatorisch überfordert. Ein wesentliches Ziel der Französischen Revolution, welche die katholische Kirche unter anderem durch die vorgebliche Stümperei Kardinal de Rohans hervorbrachte, bestand darin, diese Dynamik zu bremsen, um die betreffenden Gesellschaften in eine institutionale Form gießen zu können, welche sich einerseits mit der entwickelten Rolle des gemeinen Bürgers vertragen sollte und andererseits von ihr nach etabliertem Muster kontrolliert werden konnte.
Und genau dazu dient die Duldung des Lasters: Sie ersetzt die Freiheit, eine gottgefällige Haltung zu entwickeln, durch die Freiheit, etablierte Haltungen anzugreifen, und während erstere zu neuen Haltungen und Tugenden und damit auch gesellschaftlichen Rollen führt, führt letztere stets nur zu der Einsicht, daß es besser gewesen wäre, die etablierten Tugenden nicht anzugreifen, so daß die ideale Haltung erstarrt.
Unter dem Vorwand also, die Menschen von ihren überholten Moralvorstellungen zu befreien, stellt die katholische Kirche sicher, daß sich die Menschen gerade nicht von ihren überholten Moralvorstellungen befreien, denn befreien tun wir uns stets nur durch Aufbau und nicht durch Verwüstung: Will ich eine Gruppe von mir abhängig machen, so werde ich ihr raten, die Unverständigsten in ihr die Entscheidungen treffen zu lassen, und wenn ich einen einzelnen Menschen von mir abhängig machen will, so werde ich ihm raten, seinen unsinnigsten Impulsen zu folgen.
Natürlich läßt sich auch an der von Platon behaupteten sozialen zweifeln, wenn man an Ausdrücke wie Miesepeter oder Spielverderber denkt, aber dieser Zweifel berührt die geschichtliche, so daß wir ihm nicht eigens nachspüren müssen.
Es kennzeichnet das Zeitalter der Werke im Gegensatz zum Zeitalter der Wacht, daß die rechte Haltung zur Ausfüllung der verschiedenen gesellschaftlichen Rollen nicht mehr in Form eines Pantheons von ihm verkörperter zu ihnen qualifizierenden Tugenden vorgegeben, sondern individuell entwickelt wird. Allerdings ist es schwierig, dem Einfluß eines einmal etablierten Pantheons zu entkommen, so daß die Haltungsentwicklung tendentiell akademisch bleibt, beziehungsweise in der Antike akademisch geblieben ist. Die germanischen Barbaren waren hingegen unbehauen genug, um wirklich zu neuen Konzepten zu gelangen, wobei eine edle Haltung zu entwickeln zunächst dem Adel vorbehalten blieb.
Anfang des 17. Jahrhunderts verlagerte sich der Fokus aber auf das gemeine Volk, welches nun einerseits vom Adel erzogen und andererseits sich seine Zukunft selbst ausmalend seine Rolle im Reich Gottes suchte, und diese wurde mit der Französischen Revolution rechtskräftig.
Aber während in den 150 Jahren von 1639 bis 1789 diese Rolle wuchs, erstarrte sie fortan, was dem Übergang von der gemeinschaftlichen in die persönliche Phase des Glaubenszykels entspricht, aber deshalb nicht naturgesetzlich ist, sondern vielmehr auf eine bestimmte Weise bewerkstelligt wurde, um welche es in diesem Beitrag geht.
Wie gesagt kann der Katholizismus als eine Bewegung zur Etablierung bestimmter Menschenführungsverhältnisse verstanden werden, gegen welche der Protestantismus, zunächst in Böhmen, protestierte und sie schließlich erfolgreich in Nordeuropa durch andere ersetzte, was letztlich daran liegt, daß die Umgangsfordernden mehr zur Koordination neigen als die Leistungsfordernden und es in Nordosteuropa mehr von ihnen gibt als im Südwesten des Kontinents. Dieser Hang zur Koordination im Verbund mit Idealvorstellungen christlicher Gerechtigkeit macht die betroffenen Gesellschaften politisch dynamisch, was die katholische Kirche organisatorisch überfordert. Ein wesentliches Ziel der Französischen Revolution, welche die katholische Kirche unter anderem durch die vorgebliche Stümperei Kardinal de Rohans hervorbrachte, bestand darin, diese Dynamik zu bremsen, um die betreffenden Gesellschaften in eine institutionale Form gießen zu können, welche sich einerseits mit der entwickelten Rolle des gemeinen Bürgers vertragen sollte und andererseits von ihr nach etabliertem Muster kontrolliert werden konnte.
Und genau dazu dient die Duldung des Lasters: Sie ersetzt die Freiheit, eine gottgefällige Haltung zu entwickeln, durch die Freiheit, etablierte Haltungen anzugreifen, und während erstere zu neuen Haltungen und Tugenden und damit auch gesellschaftlichen Rollen führt, führt letztere stets nur zu der Einsicht, daß es besser gewesen wäre, die etablierten Tugenden nicht anzugreifen, so daß die ideale Haltung erstarrt.
Unter dem Vorwand also, die Menschen von ihren überholten Moralvorstellungen zu befreien, stellt die katholische Kirche sicher, daß sich die Menschen gerade nicht von ihren überholten Moralvorstellungen befreien, denn befreien tun wir uns stets nur durch Aufbau und nicht durch Verwüstung: Will ich eine Gruppe von mir abhängig machen, so werde ich ihr raten, die Unverständigsten in ihr die Entscheidungen treffen zu lassen, und wenn ich einen einzelnen Menschen von mir abhängig machen will, so werde ich ihm raten, seinen unsinnigsten Impulsen zu folgen.
Labels: 37, charaktere, formalisierung, geschichte, gesellschaftsentwurf, gesellschaftskritik, gesetze, identitäten, institutionen, sehhilfen, wahrnehmungen, zeitgeschichte, ἰδέα, φιλοσοφία