Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

7. April 2024

Geschwafel

Ich sitze hier in Estland und fürchte mich vor einem russischen Angriff gerade so viel wie die Kätzchen, welche vor meinem Fenster von der Erle hängen. Zwar gibt es immer wieder einmal böse Überraschungen, wie jene vom 11. September 2001, aber die Dreistigkeit ist umgekehrt proportional zur Menge der negativ betroffenen Spieler. Ich frage mich, was die Ukrainer denken: Entweder die Front vertraglich absichern oder mit der garantierten Waffenhilfe?, und: Wiederholt sich die Geschichte?

Ribbentrop feierte das Münchner Abkommen zwar als großen Erfolg, aber Hitler hätte schon bald lieber Polen statt der Tschechei ohne größeres Aufsehen besetzt. Und er hatte ja auch Grund unglücklich zu sein, denn der zunehmende Ernst des europäischen Auslands und Großbritanniens im besonderen ließ Deutschlands Kriegsaussichten zunehmend düsterer erscheinen.

Ich bezweifle eigentlich nicht, daß sich das immer so wiederholen wird, also daß mißbrauchtes Vertrauen dazu führt, sich strengeren Verhandlungspartnern gegenüber zu sehen. Und das ist gut genug für mich, um die Menschen zur Vernunft zu bringen.

Verhandlungen ändern sich also nicht, und der Krieg verändert sich auch nicht. Tatsächlich bleiben alle Unterfangen gleich, das einzige was sich ändert, ist die welthistorische Stunde samt den Unterfangen, welche sie provoziert.

Ich sehe heute wie gesagt ein ideologisches Vakuum, welches einerseits zu selbstvergessenen progressiven Plänkeleien und verbissenen Traditionsbekräftigungen führt und andererseits zum zynischen Verzicht darauf, den (subjektiven) Glauben einzubeziehen und dafür umso energischer die vorgezogene wirtschaftliche und militärische Stellung anzusteuern, und in dieser Lage kommt der menschlichen Sorge nurmehr die Rolle eines Nachschublieferanten zu: Je mehr die Menschen an einem Ort davon überzeugt sind, daß das Spiel nun in seine entscheidende, spannendste Phase geht, auf desto verlorenerem Posten steht die Vernunft und das, was den Menschen als solchen auszeichnet, allda.

Aber ist es wirklich so arg? Winken die Menschen oder brechen sie in Jubel aus, wenn ein Tiefflieger über ihren Köpfen vorbeifliegt? Das sind ja die klassischen Begrüßungsformen vorbeiziehender Soldaten. Eine solche Begeisterung mag es durchaus auch heute geben, aber nicht beim Volk für den Krieg. Stattdessen verkauft uns das Verteidigungsministerium hier in Estland in Werbespots vor dem Film (Dune 2 oder Das Schlachten der fetten Glatzköpfe, kam nicht so gut an, ich habe mir mit meinem 40cm langen Bart da auch keine Freunde gemacht, aber ich mußte einfach sehen, was Villeneuve aus Walk without rhythm and we won't attract a worm. oder The sleeper has awaken! gemacht hat) Soldaten als knuffige Teenager mit Brille und leichtem Übergewicht, welche erröten, wenn sie daran denken, wie männlich sie der Wehrdienst macht, wo ich das Gefühl habe, eine Werbung für ein Spanferkel zu sehen, auf welcher ein Schwein eine Scheibe von seinem Hinterteil abschneidet: Das letzte, was bei der Armee passieren kann, ist, daß einem was passiert!

Das ist allerdings so dumm, und gerade in Verbindung mit Dune 2 auch so unglücklich, daß ich mich in der Hoffnung wiege, daß dieser Kelch, welchen die Ukraine geleert hat, an Estland vorbei geht. Und so lange die Leute hier nicht am Rad drehen und zu brennen anfangen sind sie auch sicher - und ich kann mir sogar den Luxus erlauben, darüber nachzudenken, wie sich die Menschen zu einer Zukunft zusammenfinden könnten, in welcher sie den lebendigen Atem der Geschichte in ihren Lungen spüren. Die Gefahr ist aber, daß die Menschen vergessen, daß sie die Herren ihres kollektiven Schicksals sind und kurzsichtig ihren persönlichen Vorteil ohne Rücksicht auf Andere suchen und sich auf diese Weise selbst das Leben zur Hölle machen. Die Zyniker, welche heute zu Tage treten, betrachten dies schlicht als ihr natürliches Schicksal, und manche von ihnen bilden sich auch noch ein, daß es den Menschen noch viel schlechter ginge, wenn sie ihre Lebensabläufe nicht strukturieren würden.

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