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22. Mai 2019

Zur Angewiesenheit der Teile des Ichs auf einander

Der im vorigen Beitrag beschriebene Verlust der Wahrheit ist kein direkter, sondern ergibt sich aus Angewiesenheit.

Um dies klarer zu erfassen bezeichne
  • Dringlichkeit die Angewiesenheit des Willens auf die Wahrnehmung,
  • Bedeutung die Angewiesenheit der Tat auf den Willen und
  • Sinn die Angewiesenheit der Wahrnehmung auf die Tat.
Dann erhalten wir nach dem vorherigen Beitrag, daß
  • Dringlichkeitsverlust den Verlust des Schönen bedeutet,
  • Bedeutungsverlust den Verlust des Mächtigen und
  • Sinnverlust den Verlust des Wesentlichen,
aber mit Blick auf den Beitrag Die drei Quellen aller Aussagen erhalten wir zugleich, daß
  • Dringlichkeitsverlust der Verlust der Ethik, also des Heilsbegriffes, ist,
  • Bedeutungsverlust der Verlust der Physik, also der Weltbewandtnis, und
  • Sinnverlust der Verlust der Logik, also der Verfassungsfolgerung,
oder, um dies auf die Quellen selbst zurückzuführen, daß
  • die Stimmung die Dringlichkeit erfaßt,
  • die Erwartung die Bedeutung und
  • die Einsicht den Sinn,
wobei einzig die letzte Behauptung so nicht ganz stimmt, da sich die Einsicht nicht bloß auf Handlungen als parameterabhängige Funktionen bezieht, sondern auch auf geometrische Verhältnisse, oder, um es mit Schopenhauer zu sagen, Logik sowohl in Zeit und Raum als auch in ihrer Verbindung existiert.

Ich sprach schon vom Entsetzen, allgemein bemerken wir den Verlust
  • der Dringlichkeit durch Erschauern,
  • der Bedeutung durch Entsetzen und
  • des Sinnes durch Verlegenheit.
Die Lästerung des Heiligen Geistes, vor welcher die Bibel warnt
Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben; aber die Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben. Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird's nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt.

So jemand sieht seinen Bruder sündigen eine Sünde nicht zum Tode, der mag bitten; so wird er geben das Leben denen, die da sündigen nicht zum Tode. Es gibt eine Sünde zum Tode; für die sage ich nicht, daß jemand bitte. Alle Untugend ist Sünde; und es ist etliche Sünde nicht zum Tode.
ist der Bruch mit der Dringlichkeit, kein bloßes unwillkürliches oder willkürliches Entrücktsein, sondern die Verhöhnung des subjektiven Gefühls der Dringlichkeit, die Verhöhnung der Bedeutung seiner Gestimmtheit für den Menschen, in welcher sich die schwärzeste Stimmung offenbart, wiewohl sie sich selbst für etwas anderes hält (nämlich Objektivität).

Einige wenige Deutsche sind von letzterem befallen, das ist andernorts nicht anders, die unwillkürliche Entrückung aber ist hierzulande eine Seuche, alles ist gleich viel wert, alles Spiel und Möglichkeit, nichts ist gewiß, alles läßt sich auch anders sehen.

In Frankreich hingegen fehlt nicht die Wahrnehmung, sondern die Tat und mit ihr der Sinn. Das ist zunächst nicht offensichtlich, aber mit ihren gelben Autoscheinwerfern und ihrer Zärtlichkeit für Paris leben die Franzosen in einem kollektiven Traum.

Daß irgendwo der Wille fehle, da ist die Natur wohl vor, aber immerhin läßt sich der folgenden Entwicklung des Films eine gewisse inhärente Logik nicht ganz absprechen:
  • Alexandre le bienheureux '68,
  • The Odd Couple '68,
  • Le cercle rouge '70,
  • The Private Life of Sherlock Holmes '70,
  • Der Seewolf  '71,
  • James Bond: Diamonds Are Forever '71,
  • Un flic '72,
  • Ludwig '73,
  • The Day of the Jackal '73 und dann
  • Zardoz '74 -
sagen wir, daß die Leugnung der Bedeutung des Lebens, welche sich in der hier zum Vorschein kommenden Entfremdung ausdrückt (1968 Tuntensprießen), schließlich in entsetzlicher Weise umgeschlagen ist (1974 Tuntenschießen).

Ich halte es für bemerkenswert, daß es (im Rahmen der Angewiesenheit der Teile des Ichs auf einander) die Bezüge sind, durch welche wir Zugang zur Wahrheit haben, und daß also Bezugsverlust zur Zerstörung unseres Bewußtseins führt. Möglicherweise gibt es hier einen Ansatz, durch Bezugsvergegenwärtigung den verheerendsten Auswirkungen des physischen Verfalls des Gehirns entgegenzuwirken, mit anderen Worten die Hoffnung, daß die entscheidenden Bezüge durch verschiedene Bereiche des Gehirns hergestellt werden können.

In jedem Falle ist die Vollständigkeit unseres Bewußtseins, daß unser Leben dringlich, bedeutend und sinnerfüllt sei, und damit schön, mächtig und wesentlich, denn indem wir Schönheit, Macht und Wesentlichkeit suchen, nehmen wir an ihnen Teil, gesellschaftlich anzustreben, und wo sie nicht vorhanden ist, da haben wir es mit betäubten Menschen zu tun, mit welchen wir uns nur eingeschränkt verständigen können: der Deutsche sieht das Schöne nicht und der Franzose nicht das Wesentliche und die Tunte... nun ja, grob verallgemeinernd, aber im Ganzen richtig, auch was die Schnittmengen von Deutschen und Franzosen mit Tunten angeht: Intrigante und Larmoyante.

Und dies muß ich nun auch wieder festhalten:
  • nur Dringlichkeit: Larmoyanz,
  • nur Bedeutung: Dominanz und
  • nur Sinn: Intriganz.
Das die Franzosen bezüglich letzterer betreffende Vorurteil trifft sie nicht in ihrer Allgemeinheit, und hat sie wahrscheinlich auch nie in ihr getroffen. Desto schärfer freilich der Kontrast, wo es einmal trifft.

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