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5. August 2011

Was zeichnet einen kritischen Geist aus?

Dieses Thema habe ich bisher noch nirgends in angemessener Form dargestellt gesehen, weshalb ich mich an dieser Stelle selber an ihm versuchen werde.

Dabei ist es einfacher, einen kritischen Geist abzubilden (Platon hat dies im Sophistes und Politikos in ausreichender Klarheit getan) als einen unkritischen.

Dennoch will auch ich hier zunächst den kritischen abbilden. Fassen wir zusammen, was den Fremden aus Elea im Sophistes und Politikos auszeichnet. Er beginnt mit einer Frage, welche ihn interessiert. Anschließend unterteilt er die Wirklichkeit durch ein System zu diesem Zwecke gewählter Begriffe. Danach fragt er nach logischen Abhängigkeiten zwischen diesen Begriffen, ob sie sich ausschließen, einer den anderen enthält oder ob sie unabhängig von einander sind, wobei er sich der durch mangelhafte Faktenkenntnis bedingten Unsicherheit dieser Schlußformen bewußt bleibt und sichere unsicheren Schlüssen vorzieht. Auf diese Weise gelingt es ihm dann oftmals eine Antwort auf seine Frage zu finden, ohne sich auf sie direkt betreffenden Erfahrungen stützen zu müssen, was von großem Vorteil ist, wenn er keine solchen Erfahrungen hat.

Wenn einer relevante Erfahrungen hat, spielt es keine Rolle, ob er ein kritischer oder ein unkritischer Geist ist, er kennt dann zweifellos die richtige Antwort. Genau darum geht es bei der Manipulation unkritischer Geister, ihr Urteil in Fragen zu täuschen, zu welchen ihnen relevante Erfahrungen fehlen.

Aber wie sieht nun ein unkritischer Geist aus?

Zunächst einmal hat er keine Frage, welche ihn interessiert, sondern nur ein diffuses Gefühl dafür, was interessant ist.

Und das ist auch schon der wichtigste Punkt. Der unkritische Geist hat seine Eigeninitiative aus der Hand gegeben, er fragt nicht, sondern hört sich nach Interessantem um.

Auf diese Weise sammelt er neben schlichten Informationen auch eine Menge von Aussagen, ohne sich deren Einseitigkeit bewußt zu sein, beispielsweise, um ein klassisches Beispiel zu bringen, daß es für Wölfe schwieriger ist, ein Steinhaus umzublasen als ein Holzhaus, was sicherlich stimmt, sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinne, dennoch aber denkbar wenig geeignet ist, um als Wahlkriterium für den Hausbau herangezogen zu werden, wenn er nicht gerade am Golf von Mexiko wohnt.

In der Praxis sind die schlimmsten Achtelwahrheiten natürlich politischer Art, wofür ich auch schon ein, zwei zentrale Beispiele hier besprochen habe.

Nachdem der unkritische Geist also mit derlei Aussagen gefüllt ist, begeht er den nächsten Fehler und wendet das Prinzip der Wahrscheinlichkeit nicht auf die Wirklichkeit an, sondern auf eben jene, selektiv kommunizierten Aussagen.

Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen setzen aber Zufälligkeit voraus, nur solange ist es unwahrscheinlich, daß ein Würfel zehnmal hinter einander die Sechs zeigt, wie er geworfen wird. Wenn er gelegt wird, ist es kein großes Wunder mehr, wenn dergleichen passiert.

Die meisten Menschen sind zweifellos unkritische Geister, und aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb, weil es bequemer ist. Wer zeigt Eigeninitiative, wo er keine zeigen muß?

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Grenzen der Meinungsfreiheit zu sehen. Wenn ich sämtliche öffentlichen Äußerungen erlaube, auch konterfaktische und Haß schürende, erleichtere oder erschwere ich dadurch den Mißbrauch unkritischer Geister?

Die Antwort hängt von der Konzentration der Meinungsmacht ab. Bei einer pluralistischen Presse erschwerte ich ihn mit einiger Sicherheit, bei einer monopolistischen erleichterte ich ihn mit gänzlicher, wiewohl in letzterem Fall eh Hopfen und Malz verloren sind.

Also, um es noch einmal zusammenzufassen. Ein kritischer Geist sagt: Das sind meine Fragen, meine Begriffe, meine Schlüsse und es ist meine Verantwortung, ihre Klarheit und Sicherheit zu gewähren. Ein unkritischer verneint das alles.

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