Bereitschaftsbeitrag

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27. April 2015

Soziale Dynamik

Was bedeutet es eigentlich, beim Abschied der Unwiederbringlichkeit zu gedenken?

Die Franzosen tun es oft, die Deutschen selten.

Es kommt heutzutage sowieso nur noch bei Zufallsbekanntschaften vor, wenn überhaupt!, das Internet ist ja mittlerweile der potentielle Spielverderber jedes schönen traurigen Abschieds geworden, wie das Flugzeug zuvor jedes schönen traurigen Abschieds von den eigenen Verwandten.

Aber dessen ungeachtet, was blitzt in ihm auf?

Das Bewußtsein dessen, daß sich die eigenen Umstände ändern, Vertraute entfallen, daß das Leben erst einmal wieder ein paar Grad kälter wird.

Aber wenn es das wird, so ist einem das auch bewußt. Die einzige Variable in dieser Angelegenheit ist das Sich Anvertrauen.

Ich kenne dieses Anvertrauen nur aus der Schulzeit und da nur im Rahmen des Bemühens, meine Ruhe zu haben, ein Aspekt, dessen Gewicht man aber nicht unterschätzen sollte: Ganz allgemein dürfte es in menschlicher Gesellschaft zuvörderst darum gehen, jene aufzufinden, deren Überzeugungen man seine eigene Unversehrtheit anvertrauen mag, um diesen Überzeugungen dann zu entsprechen.

Einzig auf dieser Grundlage wird man aber kaum jemals der Unwiederbringlichkeit gedenken, man arrangiert sich ja nur.

Es geht hier also um Formen des Sich Anvertrauens, welche einem Zugang zu Dingen gewähren, welche man genießt, und zu diesen finden Franzosen, scheint es, leichter im Umgang mit anderen Zugang als Deutsche.

Dies ist, denke ich, keine Frage des Temperaments, sondern eine Frage dessen, was in einer Gemeinschaft Ansehen besitzt: Unabhängig von aller Politik genießt in Deutschland kraftvolle Gefolgschaft das höchste Ansehen, während in Frankreich persönliche Expertise höher im Kurs steht. Und aus diesem Grunde sind die eigenen Mitbürger hierzulande keine große Hilfe bei der Verfolgung der eigenen Interessen; alles muß von der Gemeinschaft organisiert werden.

Ich sprach diesen Punkt auch schon an, es handelt sich wieder um die unterschiedliche Gewichtung des Öffentlichen gegenüber dem Privaten bei Leistungs- und bei Umgangserwartenden. Aber hinsichtlich dessen, wann letztere auf ihren Händen sitzen und wann nicht, ist noch einiges zu sagen.

Zunächst einmal geht es Umgangserwartenden im allgemeinen um kraftvolle Verteidigung, und diese wird nur dann zu kraftvoller Gefolgschaft, wenn ein hinreichend hoher Urbanisierungsgrad vorliegt. Leben sie hingegen hinreichend isoliert, so wissen sie Erfindungsreichtum durchaus zu schätzen: Die schlechte Versorgungslage zwingt sie zur Improvisation. Von daher kommt es, daß aus ihrer Peripherie immer wieder starke Persönlichkeiten und interessante Problemlösungen hervorgehen. Ein etwas albernes Beispiel dafür, aber sei's drum, ist der verstellbare Schraubenschlüssel, welchen die Schweden erfunden haben. Kein Profi wird mit dem arbeiten wollen, dazu muß man ihn zu oft nachstellen, aber dem Notwendigkeitshandwerker ersetzt er einen Werkzeugkasten.

Zum zweiten ist die Weise zu erwägen, in welcher sich die Organisation der Gemeinschaft vollzieht. Es gibt, kommunal betrachtet, nur zwei Organisationskatalysatoren.
  1. Die Tendenz einer hinreichend isolierten Gruppe von Menschen, welche ihr Glück auf die gleiche Weise versuchen wollen und können, sich abzusprechen und die Regeln ihres Wettbewerbs unter einander festzulegen, welche etwa zum Marschrutkasystem in etlichen ehemaligen Sowjetrepubliken geführt hat.
  2. Die Notwendigkeit der Wartung von Liegenschaften, sehr allgemein verstanden.
Ersteres pflegt mit großem Eifer zu geschehen, schafft aber nur horizontale Organisationen, also solche, in welchen die einzelnen Glieder unabhängig von einander bleiben und der Gewinn der Kooperation nicht in Zuarbeit, sondern in gedeihlicher gegenseitiger Beeinträchtigung liegt.

Dies ist also keine aufbauende Organisation, sondern eine Organisation bestehender Vermögen, oder anders ausgedrückt, eine ständische Organisation.

Organisierter Aufbau kann einzig durch gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme für eine Ressource irgendeiner Art geschehen, oder anders gesagt, durch eine ordensmäßige Organisation, und auf kommunaler Ebene bedeutet dies Wartung, einschließlich Modernisierung, der kommunalen Mittel.

Da es hierauf nun wirklich zuvörderst ankommt, möchte ich es noch deutlicher sagen: Ohne, daß die Verantwortung der Gemeinschaft für einen bestimmten Bereich bewußt gemacht und institutionalisiert wird, gibt es weder langfristige Intaktheit noch Fortschritt in diesem Bereich in hinreichend verbundenen umgangserwartenden Gemeinschaften.

Wer nicht auf private Expertise setzt, mit allen Folgen, welche das hat, insbesondere kuriose Meinungsbilder und mafiöse Strukturen, der muß einen Rahmen schaffen, in welchem dieselbe Expertise eine öffentliche Heimat findet.

Ansonsten verblödet er.

Es ist dabei allerdings nicht nötig, sämtliche Leistungen öffentlich zu erbringen. Es genügt, wenn die öffentliche Hand fähig ist, private Leistungen zu ermessen und Anreize für sie zu geben. Mit anderen Worten sollten umgangserwartende Gemeinschaften zunächst Verantwortung für die konkreteren Formen des öffentlichen Ansehens übernehmen, indem sie erwünschte Leistungen definieren und in ausreichendem Maße honorieren. Darüberhinaus können diese auch in öffentliche Organisationen integriert werden, ohne daß ihr privater Charakter verloren ginge.

Das ist alles sehr allgemein gesprochen und besitzt viele Konkretionen. Ich denke etwa an ein Bildungssystem, in welchem die Gemeinschaft nicht die Inhalte, sondern lediglich die Verpflichtungen der Wissen Voraussetzenden, Besitzenden und Erwerbenden festlegt, und zwar auf eine solche Weise, daß sich jede Seite ausreichend honoriert fühlt, wozu das Vorhandensein einer öffentlichen Rumpforganisation von Nöten sein mag, in welche die übrigen Beteiligten integriert werden, aber nicht mit Aussicht auf Aufnahme in diese, sondern mit Aussicht auf Honorierung durch diese. Eine Aufgabe, welche gar nicht einmal so schwer ist, denn ohne Regeln in diesem Bereich leiden alle Seiten.

Dies alles kann, und dies alles muß Politik auch leisten, wenn man der Gestaltung der sozialen Dynamik Bedeutung beimißt. Anderen die eigenen Rezepte vorzuschreiben führt zu Leid und Destruktivität.

Gut, ich habe mich hier über weite Strecken wiederholt. Eigentlich wollte ich darüber schreiben, was Leidenschaft ist, nämlich die Auflehnung gegen die Fügung in die eigene Schwäche, welche einen dazu bringt, das Leben zu erdulden.

Nun, vielleicht habe ich das hiermit auch getan:
Völker sind wie Frauen, erdulden Jahrhunderte (nun gut, Überfrauen, sozusagen), und scheuen vor keinem Leid zurück, um sich in Ausbrüchen der Leidenschaft zu behaupten.
Aber Vorsicht! Lauft nicht ins offene Messer! Und schließt nicht von Leidenschaft auf Glauben, denn es gibt auch die Leidenschaft eines geköpften Huhns.

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