Bereitschaftsbeitrag

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30. Juni 2015

Klang und Art

Musik kann viel aussagen, wenn die Georgier singen, beschreiben sie sich selbst, wie sie nun einmal sind, vor dem Hintergrund der Welt, wie sie nun einmal ist, wenn die Armenier singen, beschreiben sie, was ihnen in der Welt widerfahren ist und wenn die Deutschen singen, beschreiben sie, wo in der Welt sie hinwollen.

Die georgische Musik arbeitet geschickt mit harmonischen Brüchen, rhythmischen und melodischen Korsetten, ausgesprochen aufgesetzten Stimmlagen. Sie bildet einen Kanon gesellschaftlich akzeptierter Innerlichkeit, Temperament und Berührtheit zu einem Ausgleich zu bringen versuchend. Sie ist große Kunst, denn sie versucht den Menschen sowohl realistisch als auch erhaben darzustellen, sie ist es deshalb, weil im Bekenntnis alle Güter und Übel in sich zu tragen, der Schlüssel zu wahrem Adel liegt: Nicht nach Erklärungen zu suchen, um sich zu rechtfertigen oder abzufinden, sondern nach Kraft und Maß die eigene Natur in die Welt treiben zu lassen.

Freilich, der georgische Kosmos ist statisch, die Sterne an seinem Himmelszelt sind nicht nur gezählt, sie sind durchnumeriert. Die georgische Kultur ist authentisch antik, von ihrer Haltung aus sind die Araber ins Jammern verfallen und die Griechen ins Frivole abgeschwiffen, und doch sind diese beiden noch klar als ihre Ableger erkennbar, denn auch sie sind statisch, wohingegen das Leid, welches die klagenden Töne des Duduks heraufbeschwören, in der schieren Zeitlichkeit der Geschichte besteht: Die Georgier wählen die Zeit, in welche sie wollen, die Armenier verfolgen sie.

Und die Deutschen malen sie sich im wesentlichen aus, gewiß, bald da zu sein, nicht leidend, sondern munter: Wo der Armenier das Gewicht der Vorkehrungen sieht, da sieht der Deutsche die Möglichkeit zu sinnerfüllter Beschäftigung, der Weg ist nicht unbedingt sein Ziel, aber er kennt auch keine klare Trennlinie zwischen Weg und Ziel.

Dies alles spricht klar aus den Liedern der betroffenen Völker.

Und auch aus den Stimmen der Menschen spricht klar, wie sie in der Welt suchen.

Wenn ich mich höre, meine Stimme ist nicht außergewöhnlich, ich hatte sogar einen Freund in meiner Klasse, dessen Stimme meiner zum Verwechseln ähnelt, und wenn ich meine Wirkung aus einigem Abstand bedenken möchte, muß ich nur an ihn denken, also wenn ich mich oder ihn höre, so begegnet mir jemand, welcher davon überzeugt ist, daß es zahllose Menschen gibt, welche ihm gleichen, und welcher alles, was er in die Hand nimmt, daraufhin ansieht, wie es ihm und seinesgleichen wohl von Nutzen sein könne, wobei er gerne bei dem verweilt, was er gerade in seinen Händen hält, aber auch nicht zu lange, jemand, der in die Sonne blickt, wie sie im Meer versinkt und denkt: Und morgen ist auch wieder ein Tag.

Ich bin den Georgiern nicht ganz unähnlich, auch wenn ich ein ziemlich typischer Deutscher bin, es liegt an meinem Hang zum Episodischen, das heißt weniger an einem Drang zu neuen Ufern, als vielmehr an meiner Weigerung, irgendein Ziel für längere Zeit beizubehalten, nicht im Sinne von Orientierungslosigkeit, sondern im Sinne des Vermeidens mentaler Krämpfe: Ich vertraue darauf, daß mein Wille mich schon wieder an den verwaisten Arbeitsort zurücktreiben wird.

Man kann nicht sagen, daß ich meine Zeit wähle, sie wählt eher mich, und ich mache mich auf ihren Weg, nach deutscher Art, für eine Weile. Und doch, in dem Maße, in welchem mir die Geschichtlichkeit des Zieles egal ist, und die augenblickliche Erwähltheit alles, nehme ich das Statische wahr: Es bestimmt mein Denken nicht, aber im Laufe der Zeit orientiert es mein Denken.

Ich stehe seit ein paar Tagen vor dem Problem, mich mit mir selbst anstatt mit der Welt beschäftigen zu müssen, letztlich, weil auch ich in der Welt bin, viel habe ich heute nicht dabei gewonnen und doch etwas. Und morgen ist auch wieder ein Tag. Nun, gegen Mittag werde ich diesen Beitrag veröffentlichen müssen - den Rest des Tags hab' ich frei.

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