Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

5. Mai 2017

Eindrücke einer Wanderschaft

Bad Segeberg. Im großen Möbelhaus die Schlacht um die besten Plätze im Kinderkino, wo Hanna-Barbera Cartoons laufen. Bei der Fahrt über die Eisenbahnschienen am Ortseingang jedesmal die Jagd nach dem flauen Gefühl im Magen. Die Karl-May-Festspiele erinnern mich an eine Stuntman-Show mit Autos: Ich warte förmlich darauf, wann das nächste Mal wieder Benzin entflammt wird. Die Kalkberghöhle ist richtig toll - nur dumm, daß ich sie erst so spät in meinem Leben besucht habe. Und mit der Gruta de las Maravillas in Aracena kann sie sich natürlich nicht messen. Aber wieviele Höhlen dienten den Templern auch schon als Lustgrotten?

Bilsbek. Von Norden her durch die Wiesen führt ein Weg auf einer Holzbrücke über den Bilsbek und gabelt sich dann, das Ellerhooper Arboretum mit dem Himmelmoor zu verbinden. Wann immer ich bei Heede und Langeln über die Krückau gefahren bin, habe ich hier entschieden, ob ich über Rellingen oder Uetersen nach Haus fahre.

Blankeneser Chaussee. 15 Minuten! Dann sollte ich im Elbeeinkaufszentrum sein! Dann noch mal 15 Minuten, und ich bin zurück. Das werde ich ja wohl durchhalten! Gut, es ist Herbst, und es regnet, und ich habe nur ein T-Shirt an. Aber was gibt es tolleres mit 12 Jahren, als sich die neueste Platte zu holen. Und, Wunder über Wunder!, ich bleibe gesund.

Bremen. Auf meinem Weg zur Arbeit beschäftige ich mich mäßig erfolgreich mit dem Russell'schen Paradox.

Butterbargsmoor. Einst konnte man vom Butterbargsmoorweg im Süden am See vorbei zum Buttermoorweg ziehen. Auf der Birkeninsel, wo es wieder trocken wurde, habe ich gerne gesessen und gelesen.

Celle. Ich mag die Stadt nicht. Sie hat so etwas gezwungenes.

Dänisch-Nienhof. Zwei ficken im (tiefen) Wasser. Ein Bayer erklärt's seiner Tochter: Man muß das versteh'n. Hier oben ist's halt nur zwei Wochen warm. Buchenwald, wilhelminisch. Wie auf Usedom oder hinter Swinemünde - und auch in Altenhof bei Eckernförde.

Darmstadt. Auf Besuch bei einer Verwandten meiner Mutter. Die Luft stinkt. Ich ersticke fast. Wie können die Menschen es hier nur aushalten?

Embach. Auf meinen Spaziergängen oberhalb Tartus am Embach verdichten sich meine Gedanken, und ich löse das Russell'sche Paradox. Mir ist zum ersten Mal klar, daß eine Menge einen zeitlichen Vorgriff auf noch nicht gefällte Urteile darstellt, und also nur unter der Einschränkung der Beurteilbarkeit existiert. Und diese Einsicht wirft ein Schlaglicht auf die Substantialität unserer Gedanken. Und insbesondere zerstört sie meine unnützen Vorstellungen davon, was ein Begriff sein könnte, und holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück, das heißt zum Studium der Relationen zwischen endlich vielen Elementen.

Fama-Kino. Zum ersten Mal auf eigene Faust ins Kino. Top Gun, 5 Mark, fairer Preis. Und Glück gehabt, eine Woche später ist die Altersfreigabe auf 13 'raufgesetzt!

Haidehof. Vom Seemoorsweg kommend und mit der Absicht, zum Schnaakenmoor zu gelangen, fasse ich hier zum ersten Mal die Aufgabe ins Auge, die menschliche Sprache in eine für Computer verständliche Form zu bringen. Indes, nachdem ich mir die Sache etwas überlege, scheint es mir bei weitem einfacher, weiterhin Programmiersprachen zu verwenden, da diese dem menschlichen Denken doch ziemlich nahe sind und keine große Anpassung unsererseits erfordern, wohingegen die Aufschlüsselung der von uns alltagssprachlich verwendeten Codes eine ungeheure Arbeit bedeutet. Erst viel später finde ich einen methodologischen Zugang zu dieser Schwierigkeit, das heißt, die Codes, deren Aufschlüsselung entscheidend für ein systematisches Verständnis unseres Denkens sind.

Hamburger Dom. Wir sind zu dritt, Harald, Christian und ich, von Kellinghusen für'n Abend mit der Bahn auf'n Dom gefahr'n. Ich sag' noch zu Christian: Jetzt hör' endlich auf mit der Tussie zu flirten, du kannst nich' noch mal mit ihr in'n Ranger geh'n, wir krieg'n den letzten Zug jetzt schon nich' mehr, aber das ist natürlich fruchtlos. Ja, und dann kommen wir eine halbe Stunde zu spät in Altona an, und ich überlege mir g'rade, was meine Eltern sagen werden, wenn ich die beiden aus Duisburg und Grevenbroich bei ihnen ablade, für vier Stunden oder so, doch dann... eine technische Panne... Bitte einsteigen! Die Türen schließen gleich.

Hansapark. Mein Vater und ich auf der Flucht vor'm Regen. Stellen uns irgendwo unter. Gehen das Ausnutzen der Regenpausen sehr stabsplanmäßig an. (Wenn es aufhört, dann läufst du da 'rüber und suchst deine Mutter und deinen Bruder! Die müssen hier irgendwo sein! - Jawoll! Wieder eine Erfahrung, um welche uns Handys bringen.)

Hansatheater. Aber bitte mit Aalschnitte! Als ich später The Three Investigators and the Mystery of the Vanishing Treasure lese und nachschlage, was Vaudeville bedeutet, wird mir anders.

Heidepark Soltau. Freudige Erinnerungen an die verankerten Fahrgeschäfte mischen sich mit Erinnerungen an schlechtes Essen.

Heist. Am Stützpunkt Appen begreife ich zum ersten Mal im Selbstgespräch am Beispiel gewisser Tensorprodukte und ihrer Dualräume, daß Begriffe, im Beispiel die Multilinearformen, die Existenz von etwas vollständig erschöpfen können, und es also nichts mehr ist, als das, was in ihnen liegt, und daß diese Erfassung zugleich auch die einzige Form sein kann, in welcher es sich überhaupt nur vorstellen läßt - eine Einsicht, welche meine konstruktivistischen Tendenzen auf dem Gebiet der Gedankenentschlüsselung befeuert, ohne daß ich freilich einstweilen tätig werden könnte.

Holmautal. Der Zauber der Wiesen südlich des Tävsmoors liegt in ihrer beiderseitigen Baumeinrahmung, und unentstellt zieht sich das Tal von Appen und der Nacktbadekiesgrube im Osten her bis zur Wedeler Chaussee im Westen hin. Glücklicherweise gibt es auch hier eine Verbindung durch die Wiesen vom Zweiten Schierlohweg im Süden zum Tävsmoorweg im Norden.

Holmer Sandberge. Mir gefiel es immer, vom Golfclub im Norden kommend den Weg durch die Wiesen in den Wald zu nehmen und dann an den Teich im Westen zu fahren. Am Katastrophenweg dort ist es schon schaurig bei Gewitter, mit all den vom Blitz getroffenen Bäumen. An ihm entlang führt einer der besten Achterbahnradwege im Kreis Pinneberg.

Klövensteen. Am besten von Osten über die südlichste Waldenauer Brücke über die LSE, dann vor jener von ihr 'runter und nach rechts und auf dem Weg auf der linken Seite durch die Wiesen in des Forstes Herz. Nach links zum Reitstall, geradeaus nach Sülldorf oder zu Waldschänke, Wildgehege und Rissen und nach rechts nach Pinneberg, Appen oder Holm - nun gut, nach Holm kommt man auch, wenn man sich zunächst geradeaus hält. Es gibt Wege noch und nöcher, doch alleine ist man am ehesten auf der westlichsten Nord-Süd-Verbindung, welche vom Feldweg 92 zum Butterbargsmoorweg führt. Und am Ausgang dieses Weges hielt ich zum ersten Mal das Thema des Walzers für W.F. fest, die Sonne ging gerade unter und verwandelte die Bäume in ein goldenes Tor, und ich besann mich auf die halb vergessene Melodie.

Kummerfeld. Ein Forst westlich der A23, und dergestalt eine Verbindung nach Tornesch. Auf ihr sehe ich die einzige junge Eiche meines ganzen Lebens. Die Rinde ist noch glatt und platzt gerade auf, aber der Baum bereits groß und stark. Was für ein Anblick! Wenn man auf dem Fahrrad von Kiel über Kellinghusen nach Hamburg fährt, kommt man durch Kummerfeld. Wie seltsam das ist! Wie sich die Atmosphäre des Orts durch die verschobene Skala der Strecke ändert! Was vorher die reizlose Mittellänge ausmachte, ist nun nichts als ein bekannter Tupfer kurz vor dem Zieleinlauf.

Leipzig. Nicht auf weitschweifigen Radtouren oder Spaziergängen, sondern in meiner schönen Altbauwohnung in der Nähe des Völkerschlachtdenkmals begann ich zum ersten Mal, neben der Logik die Ästhetik zu sezieren. Wiederum führte dies zu nichts Greifbarem, aber ich öffnete mich grundsätzlich für den vollen Umfang des Funktionskerns unseres Bewußtseins.

(Alte) Levensauer Hochbrücke. Das Leben könnte so schön sein ohne Handys! Aber so ist die Polizei in 5 Minuten da und sagt, es sei ein sicheres Anzeichen von Lebensmüdigkeit, auf den Eisenbögen zu picknicken!

München. Holla, die Waldfee! Der Hockeyclub Blankenese wurde zu einem Turnier in München eingeladen! Ich mag erst 12 Jahre alt sein, aber naiv bin ich nicht. Wir stehen auf dem vorletzten Platz der Hamburger Tabelle. Die Münchner wollen was zum abschießen! Und da geht's auch schon los, unser Torwart verspätet sich, der Trainer vertritt - und läßt die Dinger 'rein! Der Arsch! Was soll das? - Hey, ich bin einfach nur fair! Von wegen. Da kommt unser Torwart, und läßt keinen mehr rein! Am Ende drehen wir das Ding noch zu einem 4:3 nach 1:3 Rückstand. Trainer: Ich wußte nicht, daß unser Torwart so gut ist! - Ja, ja, und was weißt du sonst noch? Später dann auf dem Feld draußen komm' auch ich 'mal zum Schuß, beziehungsweise zu einem Rückhandlupfer von der Schußkreislinie über den Torwart in die rechte obere Ecke des Tors! Ja! Und ich werde als Verteidiger manngedeckt! Nun ja, das war das 8:0, dann wurde ich etwas nachlässig und hab' noch ein gegnerisches Tor verschuldet, aber am Ende steht es 9:1. Am Abend Disco. Ich spiele Schach, und verliere nach einer Stunde, in welcher ich mit dem König die ganze Zeit von einem Feld zum anderen genzogen bin. Da gibt man auf! - Wieso? Wenn das Matt ist, dann setz' mich doch Matt! Drei mit einander Rat haltenden Münchnern gelingt das schließlich. Ich denke: Das ist das Leben.

Noer. Ein guter Grund durch Osdorf zu fahren - wie damals, als ich zum Elbeeinkaufszentrum wollte, um mir die neuesten Platten zu kaufen. Aber hier ist's schon schön: malerischer Sandbrocken zur Linken, U-Boot voraus und angenehm wenige Leute vor Ort.

Nord-Ostsee-Kanal. Auf einer Fahrt entlang des Kanals zwischen Quarnbek und Kiel phantasiere ich an einem schönen Tag von einer substantiellen, das Denken selbst abbildenden Logik - ohne freilich irgendetwas auf den Weg zu bringen. Dennoch, die Erinnerung an die Ambition bleibt, und in gewisser Weise hatte ich bereits, meiner vollkommenen damaligen Impotenz zum Trotz, einen riesigen Schritt von meinem ursprünglichen Ansatz, die Codes der Sprache aufzuschlüsseln, getan, nämlich den Schritt hin zum Funktionskern unseres Bewußtseins.

Nordstrand. Per Nord-Ostsee-Bahn von Kiel nach Husum, den Rest per Rad. Windräder und grünlich-türkise Blechdächer. Hier atmet Goethes Faust. Ein wilder, und zugleich ökonomischer, Zauber.

Ohnsorg Theater. Masochismus für holsteiner Bauern: Sich beweisen zu lassen, wie schlecht ihr Platt ist, und dann auch noch diese immer gleichen Geschichten, welche sich um ihre Brautwerbungsprobleme drehen.

Pinnaubogen. Im Oberglinder Naturbad mit den Kühen baden. Auf dem Unterglinder Weg im Frühling zwei radelnden Nackedeis entgegen. Und im Glindhof unwillkürliche Erinnerungen an die Ärzte: Ich bin reich! So schrecklich reich!

Rellingen. Rotarier, das allsehende Auge im Kirchenrund und eine Eisdiele, in die mich meine Eltern als Kind manchmal mitnahmen.

Schnaakenmoor. Mich verstört dieses künstlich geschaffene Moor etwas. Ist es das Schicksal des Umlands, zum Bilderbuch der Städter zu werden?

Segeberger Straße. Auf dem Trecker mit Strohballenschleuder an der Seite und zwei Anhängern hintendran auf doppelter Rekordjagd: Wie lang kann die Autoschlange werden?, und wie schnell rollt der Trecker im Leerlauf den Hang hinunter? Ich glaube, er hat vielleicht sogar 70 km/h geschafft. Das eine oder andere Verkehrsschild hat die Strohballenschleuder mit lang genommen. Eines der wenigen Male, das mein Vater nicht so ganz mit sich zu Frieden ist. (Hoffentlich kommt da nicht die Polizei! Das haben ja 50 Leute gesehen! Aber keine Bange, damals gab es noch keine Handys.)

Sigulda. Der kleine Friedhof an der Gauja vor dem Paradiesberg! Könnte ich hier begraben sein!

St. Peter-Ording. Für ein kleines Kind ist es schon ein Abenteuer, über die Brücke über die Priele zu rennen.

Tangstedt. Es hat mal wieder geblitzt und gedonnert und die Kühe sind durch den Zaun. Wir wissen, was das heißt: 3 Stunden in Gummistiefeln herumlaufen, Äste schwingen und schreien. Aber es hat auch sein Gutes: Mein Bruder und ich sind langsam alt genug, um länger durchzuhalten als unser Vater. Komm! Schneller! Nicht schlappmachen! (leise vor sich hin kichernd).

Uetersen. Auf einer Rohbetonwand das Graffiti: Wann brennt diese Stadt endlich ab! Immer wieder schön aber, die Schiffe im kleinen Hafen an der Brücke über die Pinnau zu sehen.

Ufa-Palast. Die Rückkehr der Jedi-Ritter kommt, und die ersten beiden Teile werden wiederholt - und wir kommen 'rein! Sogar mein 6 Jahre alter Bruder. Aber dann kommt die Rückkehr der Jedi-Ritter selbst, und wir kommen nicht 'rein! Tränen und fluchen! Ob es an Prinzessin Leias Outfit lag? Ich weiß es bis heute nicht. Jedenfalls ist dies eine folgenschwere Erfarhung für meinen Bruder - und auch für mich. Zwei Jahre später kommen die Ewoks ins Kino, und mein Bruder hat sich geschworen, diesen Film zu sehen. Mein Vater gibt nach. Ich habe mir auch etwas geschworen, und zwar das nächste Mal nicht mehr die Kinobediensteten zu fragen, ob ich in einen Film darf, den ich sehen möchte. Und da läuft tatsächlich einer, den ich sehen will, und ich bin nur ein Jahr zu jung. Also sage ich zu meinem Vater: Zum letzten Mal! Die Ewoks kucke ich  mir nicht an! Ich gehe jetzt einfach in den Saal! Das klappt schon! Vielen Dank nachträglich an den Ufa-Palast dafür, daß es tatsächlich geklappt hat. Und weiß Gott! Was für ein Verlust, wenn ich Beverly Hills Cop nicht im Kino gesehen hätte!

Wedeler Chaussee. Soweit es mich betrifft, verläuft hier die Grenze zwischen Nord- und Ostsee.

Westensee. Das Auf und Ab ist anspruchsvoll, gutes Trainning. Es gibt viele Stellen, welche man sich einmal etwas genauer anschauen kann. Am besten gefällt mir die Überquerung der Eider beim Gut Marutendorf. Die Ecke hat ihren eigenen Charme: eine Ahnung des Nordostens.

Wulfsmühle. Das letzte gastliche Haus auf dem Weg ins Himmelmoor.

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