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2. Januar 2023

Ethische Umnachtungen

Welche Gründe gibt es dafür, das ethische Empfinden des Menschen zu mißachten?

Nun, wer es mißachtet, der schätzt es auch gering, und der Grund dafür ist selbstverständlich, daß er sein eigenes ethisches Empfinden für überlegen hält, und also stellt sich die Frage, worin die vermeintliche Überlegenheit bestehen mag.

Der grundlegendste Streitpunkt in diesem Zusammenhang ist, ob Ethik als etwas beschränkbares angesehen wird oder nicht, also ob angenommen wird, daß sich ethische Fragen auf eine begrenzte Anzahl von Faktoren beschränken lassen oder nicht.

Wenn Ethik als beschränkbar angenommen wird, so wird auch angenommen, daß die getroffenen beschränkten ethischen Entscheidungen verträglich mit einander sind und ein ethisches Ganzes bilden. Religiös wird dies durch den allwissenden Gott, welcher den Einzelnen inspiriert und gegebenenfalls korrigierend in den Lauf der Geschichte eingreift, bekräftigt.

Wird die Beschränkbarkeit umgekehrt verworfen, so lassen sich ethische Fragen nicht dezentral lösen, sondern es bedarf einer zentralen Lösungsinstanz, welche sich durch ihre Fähigkeit, die Gesamtheit der Faktoren zu kennen oder verarbeiten zu können, auszeichnen muß, das heißt durch nur ihr bekannte geheime Informationen oder durch nur von ihr verstandene Zusammenhänge, mit anderen Worten muß eine solche zentrale Lösungsinstanz also entweder ein Geheimdienst oder eine statistische Behörde, in der heutigen Zeit also ein Computerprogramm, oder jedenfalls eine Entwicklungsmannschaft von Computerprogrammen sein, und wenn es eine solche zentrale Lösungsinstanz gibt, so ist das die erste Form ethischer Umnachtung, also der allgemeinen Mißachtung des ethischen Empfindens des Menschen, welche religiös gesprochen die Lästerung des heiligen Atems und des ihn Atmenden ist, nämlich jene des irrelevanten ethischen Empfindens.

Aber auch wenn Ethik als beschränkbar angenommen wird, gibt es noch strittige Punkte. Der erste ist, ob ethische Einsichten durchweg aus der Empirie entspringen oder ob es welche gibt, welche uns vor der Erfahrung klar sind.

Empirisch gut ist, was funktioniert oder allgemeiner zu Verhältnissen führt, welche gefallen. Das Gute auf dieser Basis ist etwas, welches stets zu dem Grad bekannt ist, zu welchem es genossen wird, so daß, wer mehr genießt, den, wer weniger genießt, mit Recht als ethisch untalentiert mißachten dürfte und es als seine Pflicht ansehen, rückständige ethische Vorstellungen durch seine zu ersetzen. Dies ist die zweite Form ethischer Umnachtung, nämlich jene der beliebigen Verfügbarkeit über das Göttliche, wo sich in religiöser Hinsicht die Lästerung des heiligen Geists der Vergötzung zugesellt.

Und damit kommen wir zum letzten Streitpunkt, welcher die ethischen Einsichten vor der Erfahrung betrifft, nämlich ob sie sich in einem bestimmten Feld alle einsehen lassen oder ob der Prozeß des Einsehens, durch die Einbeziehung neuer Umstände genährt, anhält.

Beispielsweise ließe sich sagen, daß Konflikte stets durch Mehrheitsentscheid zu lösen seien, ja, es wird sogar gesagt, nur daß sich niemand daran hält. Das Problem hierbei, wenn man es ernst nähme, besteht darin, daß Dinge, welche sich unabhängig entscheiden lassen, mit böser Absicht in Konflikte verwickelt werden können, so daß die Konfliktlösungspraxis zu einem Werkzeug wird, um von einer dezentralen zu einer zentralen Problemlösung überzugehen und also auf ein irrelevantes ethisches Empfinden  hinzuarbeiten.

Die Wahrheit ist, daß es keine vollständige Theorie der Konfliktlösung gibt, und daß es sie auch nicht geben kann, weil aus jeder Konfliktlösung neue, auf sie bezugnehmende Konflikte erwachsen. Eine andere beliebte, und auch befolgte Theorie, betrifft die Wirtschaft und ihre Fragen: Spezialisierung, Innovation und Austausch.

Wird dabei auf Technologiefolgen hingewiesen, auf die Änderung der Proportionen und die damit einhergehende Entfernung der Systeminteressen  von den menschlichen, so werden diese Einwände dogmatisch weggewischt. Im speziellen gab es in den Vereinigten Staaten zur Zeit ihrer Erschließung keinen Grund, sich Gedanken darüber zu machen, wohin das alles führen sollte, da die entstehenden Verhältnisse sowieso nicht vorhersehbar waren, aber wenn heute das Wachstum eines Unternehmens an die Stelle des Wachstums des Landes tritt, so stimmt die Rechtfertigung vorne und hinten nicht mehr:
  1. wachsen Unternehmen auf Kosten anderer, wohingegen in einem Land die Zivilisation auf Kosten der Wildnis wächst, und
  2. verbindet sich mit dem Wachstum eines Unternehmens kein zu erwartender zivilisatorischer Fortschritt, welcher sich definitionsgemäß mit dem Wachstum eines Landes ergibt.
Wer sich also in die Erschließung eines Landes stürzt, ohne sich Gedanken über das Land zu machen, in welchem er lebt, der ist entschuldigt, gerade mit dem Hinweis auf die Dezentralität ethischer Entscheidungen, aber wer seine Bürgerpflichten durch die Interessen des Unternehmens ersetzt, für welches er arbeitet, gespickt mit dem Hinweis, daß die Wirtschaft das Wichtigste sei und die wirtschaftliche Theorie vorsieht, daß Unternehmen ihren Profit mit allen Mitteln zu maximieren versuchen, der ist verrückt.

Wenn also jemand meint, er habe die Ethik eines Feldes vollständig verstanden, welches seiner Natur nach offen ist, weil es mit den Theorien seines Verstehens oder auch dessen anderer Felder wächst, so ist er bereit, zur dritten Form ethischer Umnachtung beizutragen, nämlich jener der ausschöpfenden Beherzigung, bei welcher sich in religiöser Hinsicht die Lästerung des heiligen Geists dem Vorwitz zugesellt.

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