Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

5. August 2011

Eine kleine historische Elegie

Kaum eine Chance ist jemals gründlicher verpatzt worden als die Ausgangslage, welche sich aus dem Krimkrieg (1853-56) einerseits und dem Deutsch-Französischem Krieg (1870-71) andererseits ergab, zu einer langfristig ausgelegten Strategie der Verteidigung der christlichen Aristokratie als Staats- und Kulturform zu nutzen.

Rund 400 Meter vom Theater der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol entfernt steht das Panorama der Verteidigung der Stadt gegen Engländer und Franzosen unter General Eduard Iwanowitsch Totleben, und keine Stunde vergeht, in welcher nicht eine Gruppe russischer Soldaten durch dieses Panorama geschleust würde.

Die Lehren könnten nicht klarer sein, wenn ihre Interessen bedroht sind, besetzen Engländer und Franzosen schonmal eine strategisch wichtige Stadt, selbst wenn sie in keiner Weise direkt angegriffen worden sind und sehen es auch nicht als weiter verwerflich an, Kirchen zu plündern, um was mit nach Hause nehmen zu können.

Die Glocke der St. Nikolauskirche wurde von den Franzosen nach Paris gebracht und in Notre Dame aufgehängt, nur um dort mitansehen zu dürfen, wie Paris keine 20 Jahre später von Preußen besetzt wurde. Dies wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die Glocke zu beschlagnahmen und sie als ein Zeichen der Freundschaft nach Rußland zurückzuschicken.

Leider ist es dazu nicht gekommen, auch wenn sich Bismarck und seine Generation durchaus im Klaren darüber waren, wofür sie kämpften und wer Verbündeter und wer Feind war und dies im Dreikaiserabkommen auch zu Papier brachten.

Hätten sich England und Frankreich nicht eingemischt, Rußland hätte Konstantinopel zurückerobert. Das wird klar genug, wenn man die Zarenfamilie neben den Heiligen an der Decke der Pokrowskikirche, vielleicht 600 Meter in die entgegengesetzte Richtung vom Theater der russischen Schwarzmeerflotte aus, sieht.

Und Deutschland hätte das natürlich egal sein können. Es wird immer von den Meerengen gesprochen, als ob das Mittelmeer der offene Ozean wäre. Es ging schlicht um die Vorherrschaft über den Mittleren Osten, wobei natürlich nicht zu erwarten gewesen wäre, daß England und Frankreich beim Zerfall des Osmanischen Reiches untätig geblieben wären, so wie sie es ja auch faktisch nicht geblieben sind.

Deutschland hatte es nicht schwer, die Türkei für sich zu gewinnen. Einerseits hatten die Deutschen bewiesen, daß sie militärisch von Bedeutung waren und andererseits konnten sie keinen direkten militärischen Druck auf das Osmanische Reich ausüben, mithin also ein Verbündeter, welcher die eigenen Zähne schärfte, ohne einen beißen zu können.

Nur welche Perspektiven hatte Deutschland aufgrund dieses Einflusses?

Nichts Greifbares, nur Gespenster, und ohne Not setzte man sich anderen in den Weg, auch dem eigenen Verbündeten.

Die Franzosen freilich besannen sich alsbald darauf, daß es nun größere Hindernisse für französische Interessen als Rußland gab und zeigten sich ihm also zunehmend konziliant, zunächst erlaubte man ihm gnädigerweise wieder eine Schwarzmeerflotte zu unterhalten und am 13. September 1913 gab man, offenbar in Erwartung konkreter Gegendienste, die geraubte Glocke wieder zurück.

Nicht daß der Zar und seine Familie sich lange an ihr hätten freuen können, aber das eigentliche Versagen vollzog sich 1890 mit dem endgültigen Auslaufen des Dreikaiserabkommens, als die letzten Reste der Besinnung auf die eigenen Wurzeln innerhalb der deutschen Elite wegbrachen und mit ihnen die deutsche Wirklichkeit. Seitdem kann von einer deutschen Politik im Wortsinn nicht mehr die Rede sein, zunächst imitierte man England und später die Vereinigten Staaten, bis man schließlich jeglichen Gestaltungswillen aufgab.

Rußland hatte, bei allen Katastrophen, mehr Glück, denn es wurde nie anhaltend von seiner Elite verraten.

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