Vernunft und Gesetz
Platon schreibt, und Schleiermacher übersetzt, in den Nomoi:
Platon müht sich redlich, Vernunft als etwas Positives darzustellen, also etwas, was Lust bewirkt, und nicht nur als etwas Negatives, also etwas, was Schmerzen vermeidet, und führt dazu die Ordnung der Musik an, doch führt er diese letztlich darauf zurück, daß sich in der Musik die Gemütsbewegung des Knaben widerspiegelt, welcher der Greis einst war, womit das Positive der Vernunft also im Mitgefühl des Greises für die Jugend besteht, doch ist dasselbe selbstverständlich ein Negatives, wenn es tatsächlich vernünftig ist.
Achtung und Sorge schätzen die Lust, weil sie ermöglicht, und die Sorge schätzt die Achtung, weil sie bemerkt. Umgekehrt aber schätzt die Lust weder Achtung noch Sorge, noch die Achtung die Sorge, außer insofern das Höhere negative Gefühle des Niederen vermeiden hilft. Wessen Glückseligkeit also nicht von den Gefühlen seiner Sorge, sondern von denen seiner Achtung oder Lust abhängt, wird sich nicht aus eigenem Antrieb vernünftig oder gerecht verhalten.
Natürlich ist das hypothetisch, denn kein Mensch wird von den Gefühlen seiner Lust oder Achtung dominiert. Doch stimmen auch die Gefühle der Sorge nicht sämtlich mit der Gerechtigkeit überein: Liebe führt die Gestimmten zur Gerechtigkeit, Wertschätzung die Fordernden zur Behilflichkeit und Anteilnahme die Erregten zur Überzeugung (zur Tapferkeit). Allerdings führt die Wertschätzung die Fordernden durch das mit dem Gemeinwohl verbundene Ansehen mittelbar doch noch zum Gerechten, wenn das Gemeinwohl die Ambition beherrscht, ebenso wie auch die Anteilnahme die Erregten durch ihre Verantwortung für ihr Territorium zum Gerechten führt, wenn das Territorium sich in die Gerechtigkeit fügt.
Also ist es auch in keiner Weise das selbe, dem Ängstlichen durch Übung die Angst zu nehmen, worin sich der Nutzen der Erfahrung für die Achtung erweist, und dem Kecken durch Trunkenheit seine Schmach zu verdeutlichen. Ersteres ist ein Geschenk, letzteres hingegen versuchte Beraubung. Doch entwickelt Platon das nicht so, wie ich zunächst dachte, also Jugendliche sich besaufen zu lassen, um sie sich dann im Suff blamieren zu lassen, vielleicht sogar Wetten einzugehen und sich zu verschulden, damit sie, wenn sie wieder nüchtern sind, den Wert der Vernunft erkennen würden, denn wie anders hülfe Trunkenheit je der Vernunft, als dadurch, einen im Suff zu erschlagen und dergleichen mehr?, sondern räumt recht unverblümt ein, daß die Menschen unvernünftig sind, gleich wie alt sie werden, doch in jungen Jahren formbar und im Alter vernagelt und Dionysos sich ihrer also dadurch erbarmt hat, daß er ihre Seele im Suff verjüngt.
Wenn wir uns aber fragen, was der persönlichen Vernunft hilft, so kommen wir auf ganz andere Dinge als auf Trunkenheit und Nachahmung, wiewohl die Nachahmung eines vernünftigen Lebenswandels einen später durchaus mit Dankbarkeit erfüllen mag und meinetwegen sogar durch Vertrautheit mit ihm die Vernunft selbst in bescheidenem Maße zu fördern vermag, nämlich auf Bewährungsproben, welche der Analyse von Problemen und der Synthese derer Lösungen bedürfen, was in der Natur meistens mit Gefahren verbunden ist, sich aber auch in Form eines mathematischen Beweises leisten läßt.
Indes begegnet uns hier das Paradox persönlicher und gesellschaftlicher Vernunft in Form vernünftiger Gesetze: Was letztere leisten, braucht die persönliche Vernunft nicht mehr zu leisten, und alle Regelung entspringt dem Wunsch, nicht weiter regeln zu müssen. Wer sich selbst durch seinen zur Beherzigung gewordenen Glauben regelt, gerät dadurch nicht in eine Sackgasse, doch wer die Gesellschaft durch die Staatsdoktrin regelt, bringt nicht nur sich, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft in diese Lage.
Andererseits können wir selbstverständlich nicht ganz auf gesellschaftliche Regelung verzichten. Und um etwas genauer zu fragen: Darf die Entwicklung der Vernunft in einem Staate dem Zufall überlassen bleiben?
Meine Antwort darauf lautet: Zu einem gewissen Grade, ja. Nämlich insofern es zufällig ist, daß es in einer Bevölkerung Liebe zur Gerechtigkeit gibt. Wo es diese aber gibt, sollte sie einen Rahmen vorfinden, welcher sie organisiert. Einen solchen Rahmen nenne ich eine Rechtsschule, und eine Rechtsschule, welche gesellschaftlich Partei ergreift, eine Kirche. Ob Partei ergriffen werden sollte oder nicht, hängt von der Bedeutung von Parteien in einer Gesellschaft ab, wobei es sich bei Parteien um Gruppen handelt, welche sich wie Schulen gewissen Zielen verschrieben haben, aber im Gegensatz zu Schulen diese nicht aus Einsichten ableiten. Je mächtiger derart definierte Parteien sind, desto wichtiger ist es, daß die Einsicht Partei ergreift.
Wo diese Einmischung nicht stattfindet, wirkt die Schule allein durch ihre Lehre auf jene, welche es unternehmen, die Gesellschaft zu regeln. Wenn es eine Schule hingegen übernähme, einen Staat als Schule selbst zu regeln, so müßte sich an ihm ihre Lehre vollständig widerspiegeln, und das widerspricht der Gerechtigkeit, da alle Lehre dem Leben abgeschaut ist und dasselbe also nicht ersetzen darf.
- Demnach erkläre ich mich und behaupte, wer als Mann zu irgend etwas Tüchtigem es bringen will, der muß eben dieses sogleich vom Knaben auf , in Spiel und Ernst, in allem zu der Sache Gehörigen üben. So, wer ein tüchtiger Landwirt oder Baukünstler werden will, dessen Spiel muß bei dem einen in Aufführung kindlicher Bauwerke, bei dem andern in landwirtschaftlichen Beschäftigungen bestehen, und der Erzieher jedes der beiden muß bei jedem für kleine Handwerksgeräte, Nachbildungen der wirklichen, sorgen, sowie vornehmlich auch, daß derselbe die Kenntnisse, die einer zuvor sich erworben haben muß, vorher spielend sich erwerbe, wie der Baumeister das Messen und Richten, der zum Kriege bestimmte das Reiten, oder etwas anderes der Art, und sich bemühen, durch diese Spielübungen die Neigungen und Begierden der Knaben dorthin zu lenken, wo sie, wenn sie dahin gelangten, ihr Ziel finden müssen.
Lassen wir also auch das nicht unbestimmt, was nach uns die Bildung sei. Denn indem wir jetzt die Erziehung der einzelnen loben oder tadeln, erklären wir den einen von uns für gebildet, den andern für ungebildet, nämlich Menschen, die bisweilen zur Kenntnis des Kleinhandels und der Steuerkunst und anderer Dinge der Art recht wohl ausgebildet sind. Dürfte doch, scheint es, unsere jetzige Rede nicht für Menschen taugen, welche das für Bildung halten, sondern die Bildung zur Tugend vom Knabenalter an, welche die Begierde und Lust erzeugt, ein vollkommener Staatsbürger zu werden, der dem Rechte gemäß zu herrschen und zu gehorchen weiß.
Wir nehmen doch jeden von uns, nämlich ihn selbst, als einen an? Der aber in sich selbst zwei sich widersprechende, unverständige Ratgeber hat, die wir Lust- und Schmerzgefühl nennen? Neben diesen beiden ferner Meinungen über das Bevorstehende, welche den gemeinschaftlichen Namen der Erwartung führen; aber die der Erwartung der Schmerzgefühle vorausgehenden den besonderen der Besorgnis, die dem entgegengesetzten dagegen der Ermutigung; über diesen allen aber eine Überlegung, was von diesen das bessere oder schlechtere sei, die, wenn sie zum Staatsbeschlusse erhoben ward, Gesetz genannt wird.
das aber begreifen wir, daß die erwähnten Gefühle, die wie gewisse Sehnen oder Fäden sich in uns regen, uns ziehen, und zwar, als einander entgegengesetzt, zu entgegengesetztem Handeln, dahin, wo die Grenzscheide zwischen Tugend und Schlechtigkeit liegt; denn es müsse, sagt das Denken, jeder stets einem Zuge folgend und nirgendwo von dieser Richtung abweichend, gegen die andern Fäden anstreben; dies sei aber das goldene und heilige Leitzeug der Vernunft, welches man das gemeinsame Gesetz des Staates nenne. Die anderen Leitfäden seien von Eisen und starr, dieser aber biegsam, weil von Gold, während die anderen mannigfachen Stoffen gleichen. Jeder müsse aber der schönsten Leitung, der des Gesetzes, stets nachhelfen; denn da die Vernunft etwas Schönes, aber Mildes und keinen Zwang Übendes sei, so bedürfe ihre Leitung der Nachhilfe, damit in uns die goldene Gattung über die andern Gattungen siege. - Es ergibt sich, wie wir gleich anfangs als notwendig bei dem annahmen, was wir jetzt besprechen, daß notwendig ein solches Gelage bei weiter fortschreitendem Zechen immer lärmend werde. Jeder fühlt sich über sich selbst erhoben, von Freude durchdrungen, von Freimütigkeit und Widerspenstigkeit gegen die Umgebung in einem solchen Zustande erfüllt, und er achtet sich für befähigt, die Herrschaft über sich selbst und die andern zu behaupten. Behaupten wir nun nicht, daß, wenn das geschieht, wie Eisen die von Feuer ergriffenen Gemüter der Zechenden biegsamer werden und jugendlicher, so daß sie sich, wie damals, als sie noch jung waren, dem lenksam bewähren, welcher sie zu unterweisen und zu gestalten vermag und versteht? Muß aber nicht dieser Gesetzgeber, von dem Zechgesetze ausgehen müssen, um jenen, der hoffnungsfroh und zuversichtlich der Scheu mehr vergaß, als er sollte, und sich nicht in die Ordnung und das ihm zukommende Maß im Schweigen und im Reden, im Trinken und im Singen fügen mag, geneigt zu machen, von diesem allen das Gegenteil zu tun, und kräftig genug, um auf gesetzlichem Wege in ihm die schönste Furcht als Verteidigerin gegen die in ihm erwachende unschöne Keckheit auftreten zu lassen, welche göttliche Furcht wir mit dem Namen der Scheu und Verschämtheit bezeichneten?
Wäre nun ein Rausch so beschaffen, so beschaffen die Heiterkeit, würden dann nicht solche Zechgenossen dadurch gefördert vom Gelage scheiden und befreundeter untereinander als zuvor, nicht aber, wie jetzt, gegeneinander erbittert, nachdem ihre ganze Zusammenkunft den Gesetzen gemäß stattfand und sie, sobald die Nüchternen den Nichtnüchternen den Weg zeigten, Folge leisteten?
Platon müht sich redlich, Vernunft als etwas Positives darzustellen, also etwas, was Lust bewirkt, und nicht nur als etwas Negatives, also etwas, was Schmerzen vermeidet, und führt dazu die Ordnung der Musik an, doch führt er diese letztlich darauf zurück, daß sich in der Musik die Gemütsbewegung des Knaben widerspiegelt, welcher der Greis einst war, womit das Positive der Vernunft also im Mitgefühl des Greises für die Jugend besteht, doch ist dasselbe selbstverständlich ein Negatives, wenn es tatsächlich vernünftig ist.
Achtung und Sorge schätzen die Lust, weil sie ermöglicht, und die Sorge schätzt die Achtung, weil sie bemerkt. Umgekehrt aber schätzt die Lust weder Achtung noch Sorge, noch die Achtung die Sorge, außer insofern das Höhere negative Gefühle des Niederen vermeiden hilft. Wessen Glückseligkeit also nicht von den Gefühlen seiner Sorge, sondern von denen seiner Achtung oder Lust abhängt, wird sich nicht aus eigenem Antrieb vernünftig oder gerecht verhalten.
Natürlich ist das hypothetisch, denn kein Mensch wird von den Gefühlen seiner Lust oder Achtung dominiert. Doch stimmen auch die Gefühle der Sorge nicht sämtlich mit der Gerechtigkeit überein: Liebe führt die Gestimmten zur Gerechtigkeit, Wertschätzung die Fordernden zur Behilflichkeit und Anteilnahme die Erregten zur Überzeugung (zur Tapferkeit). Allerdings führt die Wertschätzung die Fordernden durch das mit dem Gemeinwohl verbundene Ansehen mittelbar doch noch zum Gerechten, wenn das Gemeinwohl die Ambition beherrscht, ebenso wie auch die Anteilnahme die Erregten durch ihre Verantwortung für ihr Territorium zum Gerechten führt, wenn das Territorium sich in die Gerechtigkeit fügt.
Also ist es auch in keiner Weise das selbe, dem Ängstlichen durch Übung die Angst zu nehmen, worin sich der Nutzen der Erfahrung für die Achtung erweist, und dem Kecken durch Trunkenheit seine Schmach zu verdeutlichen. Ersteres ist ein Geschenk, letzteres hingegen versuchte Beraubung. Doch entwickelt Platon das nicht so, wie ich zunächst dachte, also Jugendliche sich besaufen zu lassen, um sie sich dann im Suff blamieren zu lassen, vielleicht sogar Wetten einzugehen und sich zu verschulden, damit sie, wenn sie wieder nüchtern sind, den Wert der Vernunft erkennen würden, denn wie anders hülfe Trunkenheit je der Vernunft, als dadurch, einen im Suff zu erschlagen und dergleichen mehr?, sondern räumt recht unverblümt ein, daß die Menschen unvernünftig sind, gleich wie alt sie werden, doch in jungen Jahren formbar und im Alter vernagelt und Dionysos sich ihrer also dadurch erbarmt hat, daß er ihre Seele im Suff verjüngt.
Wenn wir uns aber fragen, was der persönlichen Vernunft hilft, so kommen wir auf ganz andere Dinge als auf Trunkenheit und Nachahmung, wiewohl die Nachahmung eines vernünftigen Lebenswandels einen später durchaus mit Dankbarkeit erfüllen mag und meinetwegen sogar durch Vertrautheit mit ihm die Vernunft selbst in bescheidenem Maße zu fördern vermag, nämlich auf Bewährungsproben, welche der Analyse von Problemen und der Synthese derer Lösungen bedürfen, was in der Natur meistens mit Gefahren verbunden ist, sich aber auch in Form eines mathematischen Beweises leisten läßt.
Indes begegnet uns hier das Paradox persönlicher und gesellschaftlicher Vernunft in Form vernünftiger Gesetze: Was letztere leisten, braucht die persönliche Vernunft nicht mehr zu leisten, und alle Regelung entspringt dem Wunsch, nicht weiter regeln zu müssen. Wer sich selbst durch seinen zur Beherzigung gewordenen Glauben regelt, gerät dadurch nicht in eine Sackgasse, doch wer die Gesellschaft durch die Staatsdoktrin regelt, bringt nicht nur sich, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft in diese Lage.
Andererseits können wir selbstverständlich nicht ganz auf gesellschaftliche Regelung verzichten. Und um etwas genauer zu fragen: Darf die Entwicklung der Vernunft in einem Staate dem Zufall überlassen bleiben?
Meine Antwort darauf lautet: Zu einem gewissen Grade, ja. Nämlich insofern es zufällig ist, daß es in einer Bevölkerung Liebe zur Gerechtigkeit gibt. Wo es diese aber gibt, sollte sie einen Rahmen vorfinden, welcher sie organisiert. Einen solchen Rahmen nenne ich eine Rechtsschule, und eine Rechtsschule, welche gesellschaftlich Partei ergreift, eine Kirche. Ob Partei ergriffen werden sollte oder nicht, hängt von der Bedeutung von Parteien in einer Gesellschaft ab, wobei es sich bei Parteien um Gruppen handelt, welche sich wie Schulen gewissen Zielen verschrieben haben, aber im Gegensatz zu Schulen diese nicht aus Einsichten ableiten. Je mächtiger derart definierte Parteien sind, desto wichtiger ist es, daß die Einsicht Partei ergreift.
Wo diese Einmischung nicht stattfindet, wirkt die Schule allein durch ihre Lehre auf jene, welche es unternehmen, die Gesellschaft zu regeln. Wenn es eine Schule hingegen übernähme, einen Staat als Schule selbst zu regeln, so müßte sich an ihm ihre Lehre vollständig widerspiegeln, und das widerspricht der Gerechtigkeit, da alle Lehre dem Leben abgeschaut ist und dasselbe also nicht ersetzen darf.
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