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27. Juli 2021

Von den Rollen welterklärender Erzählungen

Den Gegenstand welterklärender Erzählungen bilden die Bahnen, welchen Menschen zu Lebzeiten folgen, und welche sie bewerten, indem sie ein Bild davon entwerfen, wohin dieselben führen.

Anders ausgedrückt erklären sich die Menschen die Welt als Jahrmarktsbude, in welcher verschiedene Preise an verschiedenen Fäden hängen, und die welterklärende Erzählung stellt einen Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Fäden und den an ihnen hängenden Preisen her.

Die gesellschaftliche Rolle solcher Welterklärungen hängt aber vom Zeitalter ab, salopp gesagt davon, ob die Bahnen basal, himmlisch oder irdisch im entsprechenden Zeitalter sind, oder, was dasselbe ist, ob die Achtung bewertet (Partnerschaft), vermittelt (Unterstützung) oder entwickelt (Teilhabe) wird: Im Zeitalter
  • der Wacht dient die Welterklärung der Begründung der sozialen Verhältnisse als Ansatz,
  • der Werke der Orientierung beim gesellschaftlichen Fortschritt als Kompaß und
  • der Wunder dem Leben in der Gesellschaft als Ratgeber.
Eine Gruppe von Menschen, welche der selben Welterklärung (in der selben Funktion) anhangen, wird eine Kultur genannt, wiewohl ich den Begriff anders verwende und deshalb von einer Ethnie (wie Johannes) sprechen möchte. Allerdings komme ich gleich wieder auf den Begriff Kultur zurück, denn wenn es innerhalb einer Ethnie Untergruppen gibt, welche die allen gemeinsame Welterklärung auf eine jeweils gemeinsame Weise variieren, so werden diese Subkulturen genannt.

Subkulturen bilden sich im Rahmen der Persönlichkeitsbildung, in deren Verlauf Jugendliche sich vom gesellschaftlichen Standard abheben und über ihn hinausgehen. Die Märchen der Gebrüder Grimm gehören zur deutschen Ethnie, jene von Douglas Adams begründen eine Subkultur.

In erster Linie dienen Subkulturen also persönlichen Belangen und insbesondere der Partnerwahl, aber wenn eine Subkultur nur hinreichend populär geworden ist, so vernöchte sie es wohl, die Welterklärung ihrer Ethnie umzuschreiben, und dieses ist auch der Weg, auf welchem Welterklärungen tatsächlich umgeschrieben werden, weshalb Subkulturen seit Sokrates' Zeiten unter Verdacht stehen.

Was unser Zeitalter betrifft, möchte ich hier kurz erörtern, warum ein Kompaß nicht dasselbe wie ein Atlas ist.  Die Märchen der Gebrüder Grimm sind kompaßartig, ebenso wie jene von Douglas Adams, und auch die Evangelien sind kompaßartig. Die Erzählungen von Dostojewski sind atlasartig, und ebenso ist es die Offenbarung: Ein Kompaß ist eine Erzählung, welche sich an jedem Ort und zu jeder Zeit auf dieselbe Weise anwenden läßt, ein Atlas hingegen erfordert zunächst die Bestimmung von Ort und Zeit (etwa im Wattenmeer), um ihn auf die richtige Weise anwenden zu können. Es ließe sich natürlich denken, daß ein Atlas beim gesellschaftlichen Fortschritt Anwendung findet, aber die Popularität von Dostojewski und der Offenbarung im Vergleich zu jener von Douglas Adams und den Evangelien spricht dagegen, wofür der Grund wohl darin zu suchen ist, daß Orts- und Zeitbestimmung Aufgaben sind, welche Gruppen von Menschen nicht mit einander übereinstimmend zu lösen vermögen.

Was also auch immer Subkulturen zusammenhält, es liegt in einer grundsätzlichen Sicht auf die Welt, welche von Anwendungsfällen nichts hören mag, und entsprechend vorsichtig muß man schon sein, wenn man es einer Subkultur gestattet, die Welterklärung einer Ethnie umzuschreiben.

Wenn wir uns nun überlegen, was wohl das wichtigste Unterscheidungskriterium für Welterklärungen sein möchte, so möchte ich behaupten, daß es jenes der Menschenfreundlich- oder -feindlichkeit ist (siehe auch den Kompaß der Lebensfreude), also ob sie den Menschen als etwas betrachten, was seine Kraft zum allgemeinen Glück einsetzt oder sie gegen es richtet. Wie gesagt geht es bei Welterklärungen nicht um Fallunterscheidungen. Daß nicht jeder seine Kraft zum allgemeinen Glück einsetzt oder gegen es richtet, kommt bei ihnen gar nicht in Betracht. Was in Betracht kommt, sind die Weisen, auf welche anderen zu helfen, beziehungsweise sie in ihrer Freiheit zu beschneiden zum allgemeinen Glück führt. Weder in den Evangelien, noch in den Märchen der Gebrüder Grimm (auch nicht in jenen Douglas Adams', nebenbei bemerkt) finde ich Beispiele für letzteres. Und wie sähe unsere Gesellschaft wohl aus, wenn wir die letzten 2000 Jahre versucht hätten, uns gegenseitig zum allgemeinen Glück in unserer Freiheit zu beschränken? (Antwort: Nach 100 Jahren wäre die ganze Geschichte bereits in folge allgemeiner Feindlichkeit im Sinne des verlinkten Beitrags auseinander geflogen, und je mehr die Menschen Welterklärungen in sich aufnehmen, desto eher.)

Und doch ist heute allgegenwärtig von der Verantwortungslosigkeit der Menschen die Rede, daß sie, auch wenn sie im Zentrum ihres eigenen schlechten Handelns sitzen, selbst seine Folgen nicht zu spüren bekämen, sondern Andere, Entfernte, welche sie aufgrund ihrer intellektuellen und moralischen Defizite ignorierten, weshalb jedes Mal, wenn jemand, welcher an diese Zusammenhänge glaubt, einschreitet und Verbote erläßt, das allgemeine Glück ein Stück näher käme.

Nie und nimmer. Unsere Gesellschaft ist verantwortungslos, weil sie sich vom Geld an der Nase herumführen läßt, aber die Folgen dieses schlechten Verhaltens bekommt sie zu spüren, und wenn ihr nicht die Freiheit dazu genommen wird, wird sie ihm schon durch die Besinnung auf ein besseres abhelfen.

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