Bereitschaftsbeitrag

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2. August 2021

Gemahnungserzwingung

Ich sprach im Zusammenhang mit Platons Anamnesis von Gemahnung als Mittel der Bewußtmachung von modellhaften Tugendvorstellungen. Wiewohl dieses Mittel dem Zeitalter der Wacht angehört, ist es nie ganz außer Gebrauch gekommen, wiewohl es von der christlichen Geistlichkeit, genauer gesagt von Pastoren und Priestern, nur in Notfällen und zur Unterbindung anathematischer Auswüchse eingesetzt wird, also nicht positiv einzelne Tugenden verherrlichend, sondern negativ den impliziten Fundus christlicher Tugenden in Erinnerung bringend, um anathematische Vorstellungen als ihm widersprechend zu geißeln.

Da die Tugendvorstellungen im Zeitalter der Werke individuell entwickelt werden, kann eine solche Zurechtweisung nicht explizit geschehen, der Geistliche weiß schlicht nicht, welche Form der Abweichler dem christlichen Kompaß in seiner Haltung gegeben hat, und so muß er darauf hinwirken, daß der Abweichler sich selbst verurteilt.

Um dies zu erreichen, wird zu den folgenden drei Mitteln gegriffen:
  1. der Ausmalung,
  2. der Hinterfragung und
  3. einem Rechtstitel, also einem Anspruch auf Entschädigung.
Die Ausmalung erfüllt den Zweck, den Gegenstand des Disputs vom Konkreten und logisch Erkannten auf das Vorgestellte auszuweiten. Die Hinterfragung fordert dann die Verteidigung der eigenen Haltung in allen Bereichen des Vorstellbaren, und der Rechtstitel dient dazu, daß der Abweichler ein menschliches Urteil anstelle des göttlichen akzeptiert.

Eltern rücken wohl auch bisweilen ihren Kindern auf diese Weise zu Leibe, aber in der politischen Arena ist es der Geistlichkeit vorbehalten, die Gemahnung zu erzwingen, wofür das Ritual aller Kollektivisten, dem Neuling in versammelter Runde die abstrusesten Verleumdungen (so genannte persönliche Eindrücke) an den Kopf zu werfen, ein schöner Beleg ist, denn es wäre selbstverständlich vorzuziehen, wenn Kritiker des Kurses des Kollektivs durch erzwungene Gemahnung dazu gebracht werden könnten, sich selbst zu verurteilen, und der Grund, warum es nicht geschieht, kann nur darin bestehen, daß beliebige Kollektive dazu schlicht nicht in der Lage sind, offensichtlich weil sie sich hinsichtlich der geforderten Tugenden weder implizit, noch explizit einig sind.

Einig bei solchen Zurechtweisungen sind sich prinzipiell nur Rechtsschulen, und insbesondere Kirchen.

Normalerweise richten sich die Zurechtweisungen an Einzelne, und mir ist noch nicht einmal ein Beispiel bekannt, in welchem die Kirche versucht hätte, eine Sekte durch erzwungene Gemahnung dazu zu bringen, sich selbst zu verurteilen, vermutlich weil ein Einzelner sich wohl selbst verurteilt, aber sich gegenseitig bestätigende Gruppen nie, demgemäß die Kirche im Kampf gegen Häresien, angefangen mit den Arianern bis jedenfalls einschließlich den Katharern, auch stets auf Ausmerzung gesetzt hat.

Nein, traditionell richtet sich die Zurechtweisung an die eigenen Schafe, und im erhöhten Maße, wenn von ihnen besonderes verlangt wird, jedenfalls lese ich Loyolas Geistliche Übungen so, und Peter Scholl-Latour hat sich auch in diesem Sinne geäußert. Was erleben wir zur Zeit also? Warum geben die Kirchen der politischen Gemahnungserzwingung fortgesetzt ihren Segen? Muß es nicht dazu kommen, daß die Forderung nach sozialer Verantwortlichkeit im Laufe der Zeit zu dämonisierender Verleumdung wird, wenn niemand sieht, daß er Verantwortung trägt, und die Politik von Selbstinszenierung bestimmt wird? Wie lange werden die Kirchen dem den Steigbügel halten?

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