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9. März 2022

Die Gnade der Einsicht im Anblick ihres Mangels

Ich erwähnte vor kurzem Aschenputtels soziale Situation, und auch sonst beschäftigen die Haltungen meiner Mitmenschen mein Herz. Es ist in gewisser Weise unerklärlich, daß ich diesen Beitrag nicht schon früher geschrieben habe, denn er basiert schlicht auf dem Mechanismus der Haltungsannahme, welchen ich seit mehr als 10 Jahren kenne, und ist darüberhinaus ausgesprochen nützlich: Ich kann nur annehmen, daß erst die Tragik des Heranreifens mich von seinem Gewicht überzeugt hat.

Wenn wir etwas einsehen, passen wir unsere Haltung an diese Einsicht an. Aber bisweilen müssen wir Entscheidungen treffen und zugehörige Haltungen annehmen, ohne uns dabei auf eine Einsicht stützen zu können, welche die Lage klärte. Und also können wir uns ohne näher bestimmte Gründe dazu zwingen, eine Haltung anzunehmen. Das ist die Beliebigkeit der Haltung.

Gleichzeitig reagiert unser ganzes Wesen auf die Haltung, welche wir, aus welchem Grund auch immer, angenommen haben, indem sie unsere Stimmung bestimmt, weshalb wir eine Haltung nicht einfach, nicht als bloßes intellektuelles Experiment annehmen können. Das ist die Einzigkeit der Haltung, sie existiert nicht gleich Plänen in Schubladen, sondern als das Gerüst unseres Verhaltens, welchem wir uns gleich Treibgut, Flößen oder auch Ozeanriesen auf hoher See anvertrauen.

Aus letzterem Grunde verachte ich Oscar Wilde dafür, daß er Rodion Raskolnikoffs theoretisch begründeten, aber letztlich einsichtslosen Mord genommen und in Dorian Gray's Ausschweifungen verwandelt hat, denn während es nicht a priori klar ist, daß sich die Gesellschaft nicht dadurch verbessern ließe, reichen Witwen ihr Geld zu nehmen und es anderen Zwecken zuzuführen, ein Gedanke, welchen Alfred Hitchcock dann auch noch einmal in Shadow of a Doubt aufgegriffen hat (von Schopenhauers eher humoristischen Ausführungen zur indischen Witwenverbrennung ganz zu schweigen oder dem, was laut unserem Herren Jesus Christus die Pharisäer seit ehedem tun), ist es a priori klar, daß einen die eigene Stimmung nur erheben kann, wenn man auf ihrem Boden steht, womit sich Wilde's Roman um eine Ungeheuerlichkeit dreht, nämlich darum, daß jemand nicht wüßte, daß sein Urteil aus dem Frieden seiner Seele fließt, und wer wüßte das nicht?, wohingegen es bei Dostojewski und Hitchcock darum geht, dem einmal so zum Verwechseln ähnlich gewonnenen Urteil seinen weiteren Frieden notfalls aufzuopfern.

Doch genug der literarischen Abschweifung und hinüber zur realen Tragödie heute. Der Mangel an Einsicht zeigt sich auf drei Weisen unter meinen Zeitgenossen:
  • Beliebigkeit,
  • Grobheit und
  • Beschränktheit.
Beliebigkeit entspringt eben der Beliebigkeit der Haltung. Es handelt sich um Menschen, welche das Leben als Multiple Choice-Test betrachten, und sich nicht nur das Maul darüber zerreißen, welche Wahl ihre Mitmenschen getroffen haben - das tun wir alle, wenn wir jung sind, um potentiellen Paarungspartnern unsern Witz zu beweisen - sondern auch ihre Meinungen darüber austauschen, welche Wahl man selbst ergreifen sollte.

Grobheit entspringt der Einzigkeit der Haltung, indem eine einmal ergriffene Haltung, welcher die Stimmung ihren Segen gab, nicht weiter nuanciert wird, aus Furcht sie zu verlieren und keinen vergleichbaren Segen wiederzufinden. Hierunter fallen die Fanatiker des Schlages eines Raskolnikoffs. Die Gnade unseres Herren Jesus Christus sei mit uns allen, wenn wir das Gebot, unser Leben zu lassen, um es wiederzunehmen, beherzigen.

Und auch Beschränktheit entspringt der Einzigkeit der Haltung, indem beschränkte Menschen versuchen, die Verhältnisse, welchen ihre Haltung gewachsen ist, festzuzurren, um auf diese Weise den Segen ihrer Stimmung nicht zu verlieren, just wie Aschenputtels Stiefschwestern.

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