Bereitschaftsbeitrag

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23. Oktober 2022

Zwangsvorstellungen

Im Gegensatz zum Idioten und Verbrechen und Strafe quäle ich mich geradezu durch die Brüder Karamasow, nicht unbedingt, weil das Buch schlechter wäre, was ich nach 513 Seiten noch nicht abschließend beurteilen mag, sondern weil es einem allerhand Schwerverdauliches vorsetzt.

Dieses Mal geht es um den geheimnisvollen Besucher in Starez Sossimas Jugendjahren. Mir gefällt die Art und Weise, wie Dostojewskij hier Alltägliches moralphilosophisch auflädt ganz und gar nicht, bestenfalls ist es Bequemlichkeit, schlimmstenfalls der Grund zu einer irrigen Ethik, das kann ich noch nicht beurteilen, aber es scheint mir in jedem Fall geboten, klipp und klar zu sagen, was genau das Handeln dieses geheimnisvollen Besuchers bestimmt, um der hier allzu nahe liegenden Verleumdung einen Riegel vorzuschieben.

Einmal also hat er gemordet und ein zweites Mal stand er kurz davor, und beide Male folgte er demselben Gedanken, nämlich nicht mit einer bestimmten Lage leben zu können und es deshalb auch nicht zu müssen.

Die Lage, freilich, ist nicht von derselben Art. Beim ersten Mal besteht sie darin, etwas nicht verfolgen zu können, zu dem er sich aufgerufen fühlt, und das schließt in seinem Fall das Gebet um Gottes Hilfe in der fraglichen Angelegenheit ein, und beim zweiten Mal besteht sie darin, etwas getan zu haben, was er im Nachhinein lieber nicht getan hätte, und was er also gerne ungeschehen machen würde, indem er den Zeugen beseitigt.

Sie sehen also schon, was ich moniere: Menschen, welche, sobald sie etwas peinliches getan haben, darauf sinnen, dessen Zeugen umzubringen, dürften nicht allzu dicht gesät sein, und Menschen, welche jene, welche ihre Liebe ausschlagen, morden, auch nicht.

Grundsätzlich handelt es sich bei der Unfähigkeit, eine für einen selbst schmähliche Wahrheit zu ertragen, um Eitelkeit, aber hier ist sie gewissermaßen künstlicher Art, steigert sich der Betroffene in eine Haltung hinein, welche einer bestimmten ethischen Auffassung, nämlich der titelgebenden Zwangsvorstellung, Ausdruck gibt.

Die Grundverfassung hier ist Wehleidigkeit, Selbstmitleid, ein Mangel an der Disziplin, die Vernunft über sonstige Beweggründe zu stellen, in diesem Fall jene der Achtung, nicht der Lust, und daraus, wahrscheinlich unter Rückgriff auf Gottes Erbarmen, abzuleiten, daß ein jeder Mensch das Recht habe zu versuchen, als vernunftverschmähendes Tier glücklich zu werden, weil, und darin besteht die Zwangsvorstellung, das die Art des Menschen sei.

Dabei ist es nicht weiter ungewöhnlich, daß Jugendliche tatsächlich dazu neigen, sich so zu sehen und ihr Leben danach zu leben, doch nicht in offener Feldschlacht mit der Vernunft, sondern ihr bestmöglich ausweichend, und wenn sie tatsächlich in die offene Auseinandersetzung mit ihr gezwungen werden, geben sie klein bei, weil sie wissen, daß sie sich und die ganze Menschheit durch die im vorigen besprochene Ethik zu Tieren degradierten.

Was also letztlich für das Verhalten von Starez Sossimas geheimnisvollem Besucher verantwortlich ist, ist das Gefühl der Stimmigkeit einer zwangsvorstellungsbasierten Haltung, welche sich in seinem Fall aus dem Selbstmitleid mit seiner durch die Sorge geknechteten Achtung speist, aber ich wiederhole, daß, während Spannungen zwischen den Seelenteilen alltäglich sind, es einem Menschen für gewöhnlich bewußt ist, was es für ihn und seinesgleichen bedeutet, die Vernunft formal, also begrifflich in einer Zwangsvorstellung erfaßt, vom Thron zu stoßen, und auch ein Mensch, welcher sich dessen nicht bewußt ist, muß im Laufe der Zeit die Züge eines gehetzten Tiers annehmen, wenn er es tut.

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