Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

14. Juli 2021

Eine kleine Phänomenologie der Überspezialisierung

Ich sprach davon, daß Überspezialisierung zu Verwöhnung führt und Verwöhnung zu breitem Desinteresse, aber das ist nur die eine Seite der Medaille, nämlich jene der Nachfrage. Auf Seiten des Angebots führt Überspezialisierung zu Eintauschsangst, also zur Angst, seine Ware auf dem Markt nicht absetzen zu können, und wie Verwöhnung zu Desinteresse führt, führt Eintauschsangst zu Verschwiegenheit, um möglichen Konkurrenten etwaige Vorzüge des eigenen Angebots nicht preiszugeben.

Insbesondere betrifft die Eintauschsangst die eigene Ausbildung, welche in der Hoffnung erworben wird, durch sie eine Anstellung zu finden. Ich habe mir über die Jahre hin und wieder Gedanken darüber gemacht, wie dieser speziellen Unterart abgeholfen werden könnte - es gibt zwei diesbezügliche Strategien:

Erstens einer allgemeinen Ausbildung zu vertrauen, das heißt
  • für jede technische Tätigkeit, welche auf genauen Berechnungen beruht, entweder Mathematik mit Nebenfach Physik zu studieren oder umgekehrt,
  • für jede technische Tätigkeit, welche natürlichen Prozessen vertraut, entweder Chemie mit Nebenfach Biologie zu studieren oder umgekehrt,
  • für jede Tätigkeit, welche die Phantasie der Menschen betrifft (insbesondere Werbung), entweder Germanistik mit Nebenfach Literaturwissenschaft zu studieren oder umgekehrt,
  • für jede Tätigkeit, welche das Gemeinwesen betrifft (insbesondere Politik), entweder Religion mit Nebenfach Geschichte zu studieren oder umgekehrt.
Medizin und Jura brauchen keine Revision, die übrigen Studiengänge ließen sich entsprechend einrichten: Psychologie, etwa, ließe sich der Religion unterordnen und Volkswirtschaftslehre der Geschichte.

Und zweitens die Ausbildung im Rahmen von Ausbildungsverträgen mit der Industrie durchzuführen.

Die gegenwärtige Misere ist das Resultat von hochspezialisierten, aber zugleich unverbindlichen Bildungsangeboten, was, wenn ich es so sage, natürlich die Frage aufwirft, mit welchem Recht ich von Misere und Überspezialisierung spreche. Viel habe ich bisher nicht zur Pathologie von hochspezialisierten Systemen zum besten gegeben, außer, daß es irgendwann nicht mehr weiter geht, daß sie ihre sie definierenden Ansätze irgendwann ausgereizt haben, wie ein Baum, welcher seine Wurzeln und Äste nicht mehr weiter treiben kann, und daß sie zu einer Geisteshaltung führen (Verwöhnung, Desinteresse), welche schlecht auf grundsätzliche Krisen vorbereitet ist.

Indem hier nun die Eintauschsangst und die mit ihr einhergehende Verschwiegenheit mit in den Blick kommt, sehen wir, daß hochspezialisierte Gesellschaften sowohl passiv (nichts hören), als auch aktiv (nichts sagen) verschlossen, und somit faktisch atomisiert sind, und daß das bis zur Verwöhntheit gesteigerte Gefallen mit der Angst erkauft wird, ihm nicht zu genügen, was zusammengenommen das Urteil erlaubt, daß eine hochspezialisierte Gesellschaft pathologisch ist, weil sie die Menschen überfordert, was sich direkt in ihren Ängsten zeigt, welche ja gerade bedeuten, daß keine hinreichende Vorbereitung auf bestimmte Ereignisse stattfindet, und die direkte Folge davon ist, daß die Spezialisierung die Kommunikation zwischen ihnen über ihre Probleme und Wege, sie zu lösen, abwürgt.

Leider wird daraus aber nicht der Schluß gezogen, das System menschengerechter zu gestalten, sondern vielmehr Aufleser einzusetzen, welche den menschlichen Abfall (die Silben bitte deutlich trennen: Ab-fall) dem System in anderer Form wieder zuführen.

Hinsichtlich der Auswirkungen des Coronatheaters ist festzuhalten, daß die Verwöhnung nur deshalb geschwunden ist, weil unsere Konsumansprüche vorrangig durch den Unterhaltungssektor definiert werden, und insbesondere durch den Tourismus, die Gastronomie und den Wellness-Sektor, welche alle brutal unter dem Theater leiden, so daß dort also tatsächlich eine Bescheidung und mit ihr ein allgemeines Umdenken stattfindet. Nur was die produktive Seite angeht, da macht sich diese Bescheidung natürlich nicht bemerkbar, im allgemeinen, und wo sie sich im speziellen bemerkbar macht, da natürlich ruinös, da auf kostenlose Angebote wie Erholungswälder ausgewichen wird, aber im allgemeinen arbeitet der Deutsche eben nicht im Unterhaltungssektor (sogar sprichwörtlich: Wer nichts wird, wird Wirt), so daß sich an der Eintauschsangst gar nichts geändert hat, da der systemrelevante Teil der Wirtschaft von dem Theater unbetroffen bleibt.

Ich habe schon davon gesprochen, daß ich für das erwähnte Umdenken dankbar bin, und daß ich darauf vertraue, daß es schließlich dazu führen wird, sich für die Dinge zu interessieren, welche die Gestalt unserer Zukunft bestimmen. Hier könnte ich diesbezüglich noch hinzufügen, daß dies um so bemerkenswerter ist, als sich an der Hochspezialisiertheit unserer Wirtschaft nichts geändert hat, wiewohl es natürlich besser wäre, wenn sich an ihr etwas ändern würde, wie Bescheidung ganz allgemein kein Ersatz für einen Neuanfang sein kann (wenn auch auf die zurzeit erzwungene Weise zu Nebenwirkungen führen kann, welche einen erfordern).

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