Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

30. April 2022

Zum jüngeren Utopismus

Vor der Industrialisierung bildete der familiäre Rahmen die Bühne, auf welcher wir uns als würdig und gewachsen erwiesen und die Verantwortung für die Gestaltung unseres Lebenskreislaufs und unserer technologischen Ermächtigung übernahmen, doch im 19. Jahrhundert öffnete sich die nationale Bühne und mit ihr die Vorstellung, sich nicht nur in ihren Institutionen als würdig und gewachsen zu erweisen, sondern sie auch als gemeinsamen Teil des Lebenskreislaufs gemeinschaftlich zu gestalten, und darin besteht die utopistische Idee.

Allerdings beweisen Richard Wagners Ausführungen zu Amerika, daß es von Anfang an auch Pläne gab, die Gestaltung des gemeinsamen Lebenskreislaufs zu orchestrieren, und diese Orchestrierung wurde vor den Utopien des 20. Jahrhunderts ins Werk gesetzt.

Genauer gesagt wird nicht nur der gemeinsame Lebenskreislauf in Form der Arbeitsbedingungen orchestriert, sondern auch die gemeinsame Eingezogenheit in Form der Handelsbedingungen, wobei die Gestaltung der Arbeitsbedingungen an die Arbeiter gerichtet ist und die Gestaltung der Handelsbedingungen an die Unternehmer. Daß Arbeiter und Unternehmer dabei die Gestaltung der Bühne, auf welcher sie auftreten, aus der Hand geben, hat im wesentlichen zwei Gründe:
  1. fürchten sie sich gegenseitig aufgrund ihrer Tendenz, Rechte nicht anzuerkennen und sich aus der Pflicht zu stehlen, und
  2. schafft es eine etablierte Utopie zwar besser, den Lebenskreislauf zu gestalten als seine Orchestrierer, doch dafür fällt es ihr schwerer, ihre Eingezogenheit zu gestalten,
und also kommen Utopien gar nicht erst zu Stande oder sie erliegen dem äußeren Druck.

Indes mag der äußere Druck in erster Linie ein psychologisches Problem sein, wie der Vergleich der Amischen mit der ehemaligen Sowjetunion zeigt, und in dieser Richtung liegt auch der Grund, warum die utopistische Idee im Zeitalter der Wunder doch noch zum Erfolg geführt werden mag:
  1. achtet die Orchestrierung den Einzelnen zunehmend weniger, oder anders gesagt, das christliche Menschenbild löst sich auf und wird durch ein funktionales ersetzt, so daß diejenigen, welche einen Begriff vom Heil haben, zunehmend motiviert sind, sich aus der Orchestrierung zu lösen, und
  2. entsteht zunehmend die Notwendigkeit, sich zu arten, an Verhießenes zu glauben, es zu entdecken und sich den erprobten Ansätzen gemäß zu bilden, und wie ein Staat uns dadurch beteiligt, daß er einen gemeinsamen Lebenskreislauf gestaltet und eine gemeinsame Eingezogenheit, so auch dadurch, daß er eine gemeinsame Artung gestaltet, trivialerweise am Vergleich von alphabetisierten mit nicht alphabetisierten Gesellschaften zu erkennen, und also gewinnt die Utopie bei vorliegendem Artungsinteresse ein weiteres Feld, auf welchem sie sich der Orchestrierung überlegen zeigt, was wahrscheinlich den Ausschlag gibt.
Wir erleben zurzeit unter coronageschädigtem Dach die späte Wiederauferstehung des Glaubens an die Sozialdemokratie, also die orchestrierte Gestaltung der Arbeitsbedingungen im Namen der Arbeiter, wiewohl längst nicht so viele Dächer zu Schaden gekommen sind, wie von den Orchestrierern erhofft. Gleichzeitig kommen die Handelsbedingungen koordiniert unter Druck. Wohin würde das führen, wenn nichts dazwischen kommt? Ich möchte meinen zur logischen Extrapolation dieser Verschiebung der Gewichte, zu einer beworbenen (Schein-)Utopie, doch hat das alles den Charakter von vorgeschobenen Kulissen.

Labels: , , , , , , , , , , , ,