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28. Juli 2010

Der SPIEGEL vor 41 Jahren

Ausnahmsweise möchte ich mich einmal wieder mit etwas Gegenwärtigem, wenn man so will, beschäftigen, nämlich diesem Artikel hier: Mit dem Latein am Ende. Ich stieß auf ihn, als ich bei Wikipedia nach der eierlegenden Wollmilchsau suchte.

Einige Auszüge daraus.
Experten der weltweiten Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konstatierten 1968, es gebe "kein Gebiet der Wissenschaft mehr, in dem Deutschland als führend bezeichnet werden könnte"; Hauptgrund für den deutschen Rückstand sei "die Vernachlässigung von seiten des Staates".
Immer häufiger sind westdeutsche Industriefirmen gezwungen, Erfindungen und technische Neuerungen im Ausland einzukaufen -- 768 Millionen Mark zahlte die deutsche Wirtschaft 1967 für ausländische Patente und Lizenzen, der Export eigener Ideen brachte ihr nur 359 Millionen Mark ein.
so stammen 80 Prozent aller Computer, die in der Bundesrepublik verkauft oder vermietet werden, von amerikanischen Elektronikfirmen; die US-Hersteller sind den Deutschen gegenüber eindeutig im Vorteil -- während sich in Amerika der Staat mit einem Anteil von 62 Prozent an den Forschungsausgaben der Computer-Industrie beteiligte, zahlte Bonn den heimischen Elektronikfirmen nur vier Prozent der Entwicklungskosten.
auf je 10000 Einwohnern kommen in den USA etwa 25 Wissenschaftler, in der Bundesrepublik dagegen nur sechs; während in Amerika insgesamt 435 000 und in der Sowjet-Union 416 000 Techniker und Wissenschaftler arbeiten, verfügt die Bundesrepublik nur über etwa 40 000 Physiker, Chemiker und Ingenieure.
Das westdeutsche Forscher-Defizit wird sich auf absehbare Zeit kaum ausgleichen lassen; von jeweils 10000 Bundesbürgern besuchen nur 45 die Universität in den USA studieren hingegen 200, in der Sowjet-Union 117 von je 10 000 Einwohnern) und während sich nur drei von zehn westdeutschen Studienanfängern für ein naturwissenschaftliches Fach entscheiden, stellen in den USA und der Sowjet-Union die Studenten der Naturwissenschaften die Hälfte des akademischen Nachwuchses.
Lehre, so interpretiert Freerksen, bedeute im Sinne Humboldts "Verkündigung von Überzeugungen durch den "Meister" an seine "Jünger"" -- nicht "Weitergabe von Kenntnis und Erfahrung" in wissenschaftlichen Spezialfächern; und unter Forschung habe Humboldt die gemeinsame Denkarbeit des Philosophen und seiner Schüler verstanden -- die Entfaltung eines universellen Gedankengebäudes, nicht empirische und experimentelle Wissenschaft.
im Bereich der Naturwissenschaft sei deshalb die Einheit von Forschung und Lehre "sachlich nicht begründbar, praktisch nicht durchführbar und ökonomisch nicht vertretbar" (Freerksen);
Angesichts der Vielzahl von Lehrfächern und des expandierenden Lehrstoffs schlägt die nutzlos gewordene Freiheit bei angehenden Naturwissenschaftlern in quälende Unsicherheit um: Durchschnittlich zwei Semester dauert es, so ermittelte der Tübinger Botanik-Professor Erwin Bünning, bis sich die Novizen ohne Anleitung und verbindlichen Studienplan in ihrem Wissenschaftsgebiet zurechtgefunden haben
Nur zwei Prozent der Befragten hatten bei Lernschwierigkeiten den Dozenten um Hilfe gebeten, nur vier Prozent fragten den Übungsleiter. Hingegen zogen es 36 Prozent der Studenten vor, in den Lehrbüchern nachzulesen, und mehr als die Hälfte aller Befragten (54 Prozent) hatte in Zweifelsfragen "mit Kommilitonen gesprochen".
Oft kommt es vor, daß wichtige Vorlesungen lange Zeit Überhaupt nicht gehalten werden -- so fiel in Hamburg eine Vorlesung über Quantenmechanik monatelang ersatzlos aus.
Die Stimmung der Nachwuchswissenschaftler an westdeutschen Hochschulinstituten, so ermittelten "infratest"-Demoskopen, zeige "in manchem erstaunliche Parallelitäten zu dem Bild ... von Arbeitslosen der zwanziger und dreißiger Jahre".
Natürlich betreibt der SPIEGEL da Wahlkampf für Willy Brandt, und dennoch ist dies ein sehr interessanter Artikel in vielerlei Hinsicht.

Einerseits klärt er Stundenten über die innere Logik deutscher Universitäten auf, an welcher sich bis heute auch nichts geändert hat, nämlich daß sie sich zum Kreis eines Professors schlagen müssen, um hernach seine Forschungsarbeit zu erledigen, daß dies aber gerade in der Anfangsphase schwierig ist, weil die verschiedenen Professoren mit einander konkurrieren und auch versuchen durch Sabotage zu verhindern, daß Studenten universelle Souveränität erlangen, welche es ihnen ermöglichte ohne Sachzwänge frei zu wählen, m.a.W. schonmal eine Vorlesung nicht gehalten wird, um einen Jahrgang zu zwingen, sich einem Professor anzuschließen, dessen Spezialgebiet diese Vorlesung als einziges nicht erfordert.

Andererseits ist es sehr aufschlußreich hier die Gleichsetzung von Wissenschaft und Naturwissenschaft von Seiten eines SPD-nahen Nachrichtenmagazins aus dem Jahre 1969 A.D. geboten zu bekommen, wohl wissend, daß gerade jene Damen und Herren, welche sich hier über deren Unterrepräsentation in Deutschland beschweren, wie keine andere Gruppe auf diesem Planeten für die Wucherung der Soziologie, der Pädagogik und ihrer Geistesverwandten gesorgt haben und immer noch sorgen.

Auf einer Metaebene ist auch die Vermittlung von Informationen ein Punkt von Interesse. Ich kan mich nicht daran erinnern in den letzten 20 Jahren einmal so etwas wie
auf je 10000 Einwohnern kommen in den USA etwa 25 Wissenschaftler, in der Bundesrepublik dagegen nur sechs;
gelesen zu haben - jedenfalls nicht im SPIEGEL. Dasgleiche gilt von substantiierter Wirtschaftspolitikkritik à la
während sich in Amerika der Staat mit einem Anteil von 62 Prozent an den Forschungsausgaben der Computer-Industrie beteiligte, zahlte Bonn den heimischen Elektronikfirmen nur vier Prozent der Entwicklungskosten.
und es liegt die Vermutung nahe, daß dieser Rückgang an Sachlich- und Übersichtlichkeit, an inhaltlicher Tiefe und Durchdringung des Gegenstandes etwas mit der Verschärfung der im Artikel scheinheilig angeprangerten spezifisch deutschen Einseitigkeit zu tun hat.

Und jedenfalls für mich ist es auch von Interesse zu erfahren, daß 36% der Studenten nachlesen, während 54% nachfragen, was nachgelesen wurde. Freilich, das war damals an einer Hochschule so. Gesamtgesellschaftlich käme man da natürlich auf ganz andere Zahlen, aber dennoch wäre es ein sehr interessanter Indikator dieses Verhältnis an deutschen Hochschulen heutzutage zu messen, um einen Begriff davon zu bekommen, wie sich das Ansehen der Selbständigkeit in Deutschland in den letzten 40 Jahren entwickelt hat. Und eine geschlechtsspezifische Aufschlüsselung wäre auch interessant.

Nun, halten wir fest, damals wie heute gab und gibt es Menschen, welche Probleme erkennen und beschreiben können. Damals wurden ihre Analysen noch verbreitet, heute nicht mehr. Allerdings wurde auch damals nur mit Verschlimmerung auf ihre Analysen reagiert. Und wirklich zum Himmel schreiende Mißstände besaßen und besitzen das Odium heiliger humanitärer Traditionen.

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