Es gibt langsame und schnelle Zeiten. In langsamen Zeiten verlockt uns die Welt nur spärlich, und wir haben Zeit ihre Verlockungen zu ergründen und zu befinden und unsere Lebensart auszubilden. In schnellen Zeiten hingegen überschwemmt uns die Welt mit Verlockungen und überwältigt uns.
Es gibt aktive und passive Charaktere. In langsamen Zeiten haben die aktiven die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, was in ihnen liegt, während sich die passiven langweilen, und in schnellen Zeiten fühlen sich die aktiven eingesperrt, während die passiven entzücken.
Das 20. Jahrhundert bietet sich wie kein anderes zum Studium von Geschwindigkeitswechseln an. Es war einmal ein Jahrhundert, das 19., in welchem Menschen wie Ludwig van Beethoven oder Richard Wagner die Welt wissen ließen, was sie innerlich bewegte, und wenn ich sage
innerlich bewegte, dann meine ich, daß etwas ihr Inneres erfüllte, was danach strebte, dem Leben eine Form zu geben. Warum dies
heute nicht so ist, dazu komme ich am Ende dieses Beitrags. Warum dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Erliegen kam, dazu komme ich jetzt.
Die beste Veranschaulichung des Wechsels der Geschwindigkeit der Zeit ist Hans Pfitzners Oper
Die Rose vom Liebesgarten, ein durchaus noch innerlich bewegtes Werk, welches aber zugleich durch den Rückzug ins Phantastische den Wechsel der Zeit anerkennt. Alle späteren Werke Pfitzners sind Klagen über die Leere des Gefängnisses. Gefallen an der neuen Zeit zeigt sich in Eleganz in allen ihren Formen, musikalisch etwa im Swing. (Ich selbst muß zugeben, daß mein Großonkel und seine Frau, Willy und Lissa, zeitlebens eine wirklich sehr elegant im englischen Stil der 1920er Jahre eingerichtete Wohnung hatten, welche ich wohl so um 2000 herum zu befinden bekam. Einerseits war ich beeindruckt, andererseits war es aber auch sehr komisch, aus Gründen welche was mit der Oper
Lohengrin nach Lohengrins Sieg über Friedrich von Telramund zu tun haben.)
Der Scheitel der Geschwindigkeit wurde in den 1950ern erreicht und der Rock 'n Roll steht für seine frenetische Bejahung. Dann änderte sich die Richtung aber, und wieder einmal gebührt John Carpenter die Ehre, das schön eingefangen zu haben, nämlich in
Christine. Ja, die 1970er waren eine sanftere Zeit, gekennzeichnet von der allgemeinen Spekulation darüber, was aus dem Leben gemacht werden könnte, getragen von der Ergründung und Befindung des sich Darstellenden durch musizierende Jugendliche wie
Supertramp, und ich möchte sagen, daß noch jedes Lied auf
Crime of the Century von dieser Art ist:
-
School: jupp,
- Bloody Well Right: m-hm, [ohne Rick Davies kein You bloody well would! von Britt Ekland.]
- Hide in Your Shell: kann man wenigstens so sagen,
- Asylum: ja,
- Dreamer: wie nicht?,
- Rudy: definitiv,
- If Everyone Was Listening: ist wohl so,
- Crime of the Century: am tiefsten, weil es das eigene Ungenügen betrifft.
Nun, was haben wir seitdem aus dem Leben gemacht? Denn schneller ist die Zeit nicht geworden.
Und damit möchte ich zum ewigen Teil dieses Beitrags überleiten, denn daß die Zeit bisweilen zu schnell läuft, um eine eigene Lebensart auszubilden, beseitigt ja nicht die Notwendigkeit, sich zu überlegen, wovon das Gelingen dieses Unterfangens unter günstigeren Umständen abhängt.
Also, die Welt lockt, indem sie sich auf nicht immer zutreffende Weise darstellt. Ja, es liegt in der Natur des Anbietenden zu versuchen, Interessenten etwas in die Irre zu führen. Und jeder einzelne von uns macht sich auf seinen Weg, die Dinge zu ergründen und zu befinden. Und dann tauschen wir unsere Erfahrungen aus, und auf diese Weise wird uns die Welt bekannt, und erst dann können sich konkrete weltliche Idealvorstellungen in uns bilden, welche uns innerlich bewegen könnten.
Unsere Erfahrungen mit dem örtlichen Leben tauschen wir im Wirtshaus aus. Unsere Erfahrungen mit Kinofilmen auf einem Filmboard. Unsere Erfahrungen mit Gartenpflanzen in einem Gartenforum. Und so weiter.
Tun wir dies nicht, so haben wir zeitlebens nicht mehr als eine Falte des Schleiers ergründet, welcher über der Welt liegt, was durchaus
nicht normal oder gar erstrebenswert ist. Nun ja, jedenfalls nicht erstrebenswert für den Normalverbraucher, denn es gibt selbstverständlich auch Akteure, welche Gefallen daran finden, daß die Erfahrungen, welche irregeführte Normalverbraucher mit dem von ihnen Dargestellten machen,
nicht ausgetauscht werden. Und diese haben nun ein System etabliert, in welchem Darstellungen produziert und anschließend von auf bestimmte Klientel spezialisierte Aggregatoren weiterverbreitet werden, und anstatt, daß Verbraucher Erfahrungen austauschten, wird ein Spiegelgefecht zwischen Popanzen zum passiven Konsum vorgesetzt.
Fragen wir uns zum einen, woran das liegt, und zum anderen, wie es dazu gekommen ist. Nun, es liegt daran, daß heute viele Aspekte unseres Lebens
nicht örtlich bestimmt werden, weshalb das Wirthaus nicht hinreicht, unsere diesbezüglichen Erfahrungen auszutauschen, also weil wir dort nicht genügend viele mit diesen Aspekten Beschäftigte finden. Also brauchen wir ein Forum überregionaler Art, aber solche Foren werden kontrolliert.
Vor dem Internet gab es das Radio und das Fernsehen. Diese befinden und befanden sich zu jeder Zeit in den Händen einer handvoll Krimineller, welche sie als Einbahnstraße benutzen, um ihrem Publikum einen Erfahrungsaustausch vorzugaukeln, indem es an den Erfahrungen fiktiver, zumindest verfälschter, geschönt- oder verzerrter Gestalten anteilnimmt, welche ihm also eine Flut erfundener Befünde mit auf den Weg geben.
Diese Enge von Funk und Film wurde nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich von Einigen durchaus als Problem betrachtet, und aus diesem Grund fing die BBC an, Bands wie
Cream zu fördern. Der Gedanke war, Jugendliche repräsentativ in die öffentliche Mitteilung von Befünden einzubinden, nicht in Form dröger Diskussionsveranstaltungen, sondern über den Weg der Aufwertung populärer Kunst und Künstler, was auch
Monty Python ermöglichte.
Den Angelpunkt dieses Konzepts bildet der Kritiker, welcher Talente in Augenschein nimmt. Keine wirklich befriedigende Lösung, sondern eine, welche für den Augenblick gemacht ist, wiewohl dieser Augenblick, wenn sich die Kunst im Laufe von Jahrtausenden nicht ändert, wie Platon in den
Nomoi von der ägyptischen berichtet, ein ewiger sein mag.
Nun,
wir verließen diesen Augenblick 1993 nach dem Fall der Sowjetunion. Fortan bestimmten die Marketingabteilungen der großen Studios, welche Stoffe verfilmt wurden, und musikalisch verhält es sich auch nicht anders: Was kam noch nach
Betty Boo?
Freilich, zeitgleich stieg das Internet auf, und das Internet ist für alle offen. Indes scheuen sich Erwachsene Menschen nicht, öffentlich zu sagen, daß seine keine Foren bieten wollen. Niemand, der Internetforen für bedenklich hält, abgesehen von der Verbreitung von Bauanleitungen von Atombomben und dergleichen, sollte rechtlich als mündig gelten, denn er ist gesellschaftsunfähig. Wer achtet schon auf den Boardspinner, der immer von seinem Mist anfängt? Und seinetwegen soll es verboten sein, andere in einem Rahmen, wo die Teilnehmer sich auch hinter dem Bildschirm recht gut einschätzen können, vor irreführenden Darstellungen zu warnen? Wer das bejaht, verlangt eine Gesellschaft der im Dunkeln Tappenden.
Nun, die Rechtsanwälte freut's, wie jedes Mal, wenn der Teufel irgendwo eine Feuer anzündet: Geld, wenn etwas nicht verboten wird, und Geld, wenn etwas verboten wird.
Ob die Leute noch klug werden? Ob sie politisch mündig werden? Ich hoff's.
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