Entweder wir versuchen, im funktionalen Zykel
voranzuschreiten, oder wir versuchen ihn zurückzusetzen. Ist letzteres der Fall, so bemühen wir uns um
Reorganisation. Oftmals verläuft der Reorganisationsversuch dabei wie folgt:
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Leute werden auf die Vorzüge einer Reorganisation aufmerksam und zurücksetzungswillig,
- die Zurücksetzungswilligen werden auf einander aufmerksam,
- die Fortschrittswilligen werden auf die Zurücksetzungswilligen aufmerksam, nicht aber auf die Vorzüge der Reorganisation, da ihre Einbildungen dies verhindern,
- die Zurücksetzungswilligen werden von den Fortschrittswilligen zerstoben und
- die Fortschrittswilligen geraten auf Abwege.
Dies ist die erste der beiden Quellen gesellschaftlicher Abwege,
Eingebildetheit, die zweite ist die im
popkulturellen Zykel auftretende
Ziellosigkeit.
Auch läßt sich dieser Verlauf oftmals erwarten, da wir im Rahmen der Reorganisation Ansprüche an unsere Mitstreiter stellen, welche nicht erfüllt sind. Im gewöhnlichsten Fall mangelt es ihnen an Selbständigkeit, so daß jene, von welchen sie abhängen, sie dazu zwingen können, das zu tun, was sie wollen (
Wes Brot ich ess', des Lied ich sing'.)
Ich werde es, wie im Titel dieses Beitrags angedeutet, nicht unternehmen, einen vollständigen Überblick über die unterschiedlichen bei der Reorganisation auftretenden erwartungsbestimmenden Ansprüche zu geben, sondern mich auf sechs Fälle beschränken, zum einen die drei Fälle des popkulturellen Zykels, und zum anderen auf drei mit der Entwicklung und dem Wechsel der Zeitalter zusammenhängende Fälle.
Beginnen wir mit der geschichtlichen Deutung der letzten Phasen des popkulturellen Zykels.
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1820: bürgerliche Partnerschaften,
- 1870: Visionen bürgerlicher Gesellschaften,
- 1920: allgemeine Aneignung des Fortschriits,
- 1970: lebensentwerfende Partnerschaften,
- 2020: Visionen lebensentwerfender Gesellschaften (etwa auf der Basis eines bedingungslosen Grundeinkommens),
mit anderen Worten übernahmen die Bürger um 1820 herum neue gesellschaftliche Aufgaben (etwas früher), von welchen sie bis dahin ausgeschlossen waren, und um 1970 herum begannen sie damit, die Gestalt ihres Lebens aus wirtschaftlichen Sachzwängen zu befreien und sie selbst zu entwerfen.
Betrachten wir also die drei Formen der popkulturellen Reorganisation und die bei ihnen auftretenden Ansprüche an die Mitstreiter.
Bei der popkulturellen Entwicklung der Möglichkeiten (
Do your part!) gibt es keine erwartungsbestimmenden Ansprüche an die Mitstreiter, da es zur Aneignung neuer Fähigkeiten so gut wie keiner Organisation bedarf (es genügt, die nächste Übungsgruppe aufzusuchen), so daß die Gestalt der Reorganisation dem schwerkraftgetriebenen Zusammenballen, etwa von Wasser, gleicht. Sind mit anderen Worten die geschichtlichen Voraussetzungen gegeben, so gelingt die popkulturelle Entwicklung der Möglichkeiten
immer.
Bei der popkulturellen Entwicklung der Angewiesenheit (
Come along!) bestimmt die
Parteiischkeit der Mitstreiter, ob die Reorganisation gelingt, da nur parteiische Partner den Willen besitzen, sich von der Gesellschaft abzuspalten und von ihr unabhängige Partnerschaften zu begründen.
Bei der popkulturellen Entwicklung der Vertretung (
Come around!) bestimmt die
Sehnsucht der Mitstreiter, ob die Reorganisation gelingt, da die Sehnsucht der Wille ist, sich dem Fernen zu verschreiben, und in diesem Fall sich einer Vision als Ausgestalter zuzurechnen.
Sehnsucht, lebensentwerfende Gesellschaften auszugestalten, ist in Norddeutschland durchaus vorhanden, und neben einer Gesellschaft auf der Basis eines bedingungslosen Grundeinkommens fallen auch meine Vorstellungen zur
Bereitschaft und dem Zeitalter der Wunder (Gewährung, Teilhabe und Bildung als
Truppe) unter diesen Punkt, und das ist durchaus bemerkenswert: Meine Vorstellungen zur Bereitschaft wurzeln in der Tat im gesellschaftlichen Fortschritt der '70er Jahre, aber meine Vorstellungen zum Zeitalter der Wunder wurzeln in einer Technologiekritik biblischen Zuschnitts, und daß diese beiden einander also auch nur entfernt ähnlich sind, ja, tatsächlich kongruent zu einander, belegt, daß mit dem Lebensentwurf das letzte Kapitel des Zeitalters der Werke aufgeschlagen wurde.
Die verbleibenden drei Fälle der Reorganisation kann ich autobiographisch erörtern.
Bis zum Alter von 24 Jahren war mein Sinnen darauf gerichtet, einen Weg zu finden, das Zeitalter der Werke um ein Kapitel zu verlängern, also neue Lehren (die Rede ist von technischen Verfahren) in die Welt zu bringen, welche zu gesellschaftlicher Reorganisation führen würden. Sonderlich aussichtsreich erschien mir dieses Unterfangen nie, und zwar deshalb nicht, weil ich erwartete, daß dies nur gelingen kann, wenn meine Mitmenschen einen bestimmten Anspruch an sie erfüllen, welchen sie nicht erfüllen, nämlich die Entwicklung unseres Zeitalters derart mit Leben zu erfüllen, daß ich es miterleben könnte. Stattdessen erschienen sie mir stets tot. Indes, so naiv das auch ist, in Form gesellschaftlich destruktiver technischer Verfahren ist es weiterhin relevant, wenngleich es wenigstens mir schwerfällt, mich auf den Tod zuzubewegen.
Vom Alter von 30 bis zu 44 Jahren habe ich mich ausschließlich an Gott gehalten und dies auch von anderen verlangt, wenn sie in ein neues Zeitalter eintreten wollen. Glauben bedeutet, nicht mehr als Gottes Gegenwart zu bedürfen, dem Rechten zu folgen, wohin es einen auch führt, eben im festen Glauben, daß es der göttlichen Ordnung entspricht, also in Ordnung ist. Dies entspricht Noah und der Sündflut. Und mehr Glauben als zu seiner Zeit gibt es auch heute nicht, und das ist ein Problem, denn Noah taugt nur dann als Vorbild, wenn er Menschen ein Vorbild ist. Eine buchstäbliche Wiederholung der Sündflut sieht die Bibel nicht vor.
Gäbe es Glauben, so wäre er eine Arche in ein neues Zeitalter, da es ihn aber nicht gibt, muß sich die Reorganisation auf eine andere Weise vollziehen, nämlich durch Rückbesinnung in Folge göttlicher Strafen. Und welchen Anspruch müssen die Menschen erfüllen, wenn sie auf ihrem Weg nicht weiterkommen, damit sie sich zurückbesinnen?
Skepsis müssen sie besitzen, denn wenn ein Abweg als solcher erkannt wird, treten leicht zehn neue an seine Stelle.
Leider ist die Skepsis in Norddeutschland gegenwärtig unterentwickelt. Einstweilen kann keine Rückbesinnung stattfinden. Wie gesagt sorgte der
Rabendaimon als Inbegriff der Skepsis für Abhilfe. Ich kann in dieser Angelegenheit nur abwarten. Andernorts war die Skepsis hingegen weit genug verbreitet, um Brexit und Trump zum Sieg zu verhelfen. Worum es bei der Coronabewältigung in erster Linie geht, ist, die Frage zu stellen:
Skeptisch seid ihr, aber glaubt ihr auch?
Die Antwort ist seit 2000 Jahren bekannt und irrelevant: Selbstverständlich wiegt die Angst der Ungläubigen schwerer als ihre Skepsis, strategisch spielt es keine Rolle: Die Noahoption bestand nie, und die Skepsis hat sich bald erholt und wird noch zugewinnen. Die geschichtliche Bedeutung dieses Schlenkers besteht darin, die Abgelenkten zum Gespräch zu laden, und wie könnte das der Rückbesinnung nicht dienen?
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