Ich denke, es ist an der Zeit zu versuchen, einen Überblick über verschiedene Stimmungen und ihre Auswirkungen zu geben.
Der grundlegendste Unterschied in der Gestimmtheit eines Menschen besteht darin, ob er sich zu etwas aufgefordert fühlt oder nicht, was durchaus dasselbe ist, wie ob ihn Gewissensbisse plagen oder nicht.
Nun ist es hinreichend klar, daß, wer sich zu nichts aufgefordert fühlt, in Faulheit verrottet, nur macht, was andere ihm sagen oder sich ganz seiner Lust hingibt und daß, wer ständig ein schlechtes Gewissen hat, wie ein Nagetier durchs Leben hetzt und somit, daß die Frage lauten muß, woraus das Gewissen eines Menschen idealerweise bestehen sollte.
Es gibt ja durchaus ein Gewissen, welches Kinder selbständig entwickeln, wenn sie Dinge tun, aus mangelnder Disziplin, welche sie im Grunde nicht gutheißen und für welche sie dann bestraft werden, sei es durch ihre Eltern oder von anderen Kindern.
Auf diese Weise lernen Kinder, die oben genannten Verhaltensweisen, also ausschweifende Faulheit, unkritisches Nachkommen und unreflektierte Lust, im nötigen Grade zu unterdrücken. Eine Erziehung, welche nicht versteht, daß einem Kind seine Verfehlungen durch Bestrafung aufgezeigt werden müssen, geht fehl. Es fragt sich aber, wie weit einem Kind darüber hinaus ein schlechtes Gewissen gemacht werden sollte.
Letzteres pflegt zum Zwecke eines vergrößerten sozialen Engagements des Kindes seitens der Kirche oder auch seitens Sozialisten zu geschehen, und aus irgendwelchen Gründen steht dabei die Hilfe für die Schwächsten der Gesellschaft im Mittelpunkt - eine Hilfe, welche üblicherweise durch sie, die Kirche oder die Sozialisten, vermittelt wird.
Mit anderen Worten läßt sich der Verdacht nicht ganz vermeiden, daß Kirche und Sozialisten den Kindern nur zu dem Zweck ein schlechtes Gewissen machen, damit diese später Kirche oder Sozialisten finanzieren.
Diese konkrete Gewissensformung lehne ich ab, und zwar nicht jenes Verdachtes wegen, sondern weil Mißstände einer Gesellschaft aus dem Blick geraten und nie angegangen werden, wenn einen das eigene Gewissen dazu auffordert, sich um ihre Auswirkungen zu kümmern. Es ist so, als ob man, wenn ein Schiff Leck schlug, innerlich gezwungen wäre, das hereinströmende Wasser mit einem Eimer wieder hinauszubefördern. Das ist aber nicht der natürliche Instinkt. Der natürliche Instinkt ist, das Leck zu verstopfen.
Man müßte also fragen, ob eine allgemeine Erziehung zum Gemeinwohl möglich und wünschenswert ist.
Nun, wie sollte das gehen? Wünschenswert ist sie, aber man kann einem Kind ja immer nur wegen konkreter Verfehlungen ein schlechtes Gewissen machen. Es müßte also dazu kommen, daß ein Kind etwas hätte tun können, was der ganzen Gruppe genützt hätte, es aber unterließ. Nur, wenn alle anderen Kinder es auch unterließen, so kann ja niemand niemandem einen Vorwurf machen. Und wenn ein Kind es doch getan hätte, so ist die natürliche Reaktion der anderen Kinder die, dieses Kind als Führer zu akzeptieren und auch künftig von ihm solches Verhalten zu erwarten.
Gut ist das nicht, das ist ganz schlecht, aber so läuft es. Abhilfe kann nur daher kommen, daß die geschlossene Elternschaft ihren Kindern einbleut, daß sie kein Recht darauf haben, sich von anderen Kindern führen zu lassen, sondern daß sie es einem Kind, welches sich um die Gruppe verdient gemacht hat, schulden, es das nächste Mal auch zu tun, damit sie genauso vorbildliche und gute Menschen werden können wie es und sich nicht selbst ins Dunkel der Unehre stellen, wo sie fortan der Neid zerfrißt.
Ich denke, damit habe ich meiner Ansicht der Sache Ausdruck verliehen.
Kommen wir nun zum nächsten Punkt, nämlich der Frage, ob ein Kind gegen schlechte Erziehung geschützt ist oder nicht.
Nun, es ist geschützt, und zwar durch seine Zweifel. Glücklicherweise sind wir nicht blind überzeugt, sondern beginnen zu zweifeln, wenn unser Gewissen wider unsere Natur geformt wurde. Zweifel sind dabei das geistige Analogon zu Schmerzen. So wie uns die schmerzende Wunde verbietet, unseren Arm zu bewegen, verbietet uns der Zweifel, unserer Weisung zu folgen, und wie ein Kind, welches ohne Schmerzgefühl geboren wurde, sich die Zunge abbeißt, so zerschellen auch jene an der Welt, welche keine Zweifel kennen.
Das heißt aber nicht, daß man Zweifel suchen sollte. Das ist genauso Fetischismus, als wenn man Schmerzen suchte. Wer die Fähigkeit zu zweifeln hat, aber nicht zweifelt, der ist genauso glücklich dran, wie jemand, der Schmerzen empfinden kann, aber keine empfindet.
Zweifel fordern einen natürlich auch zugleich wieder zu etwas auf, nämlich sich seines Willens klar zu werden, worin gerade die Abwendung vom heroischen und die Hinwendung zum philosophischen Weg besteht. Der umgekehrte Fall tritt aus Altersgründen nicht ein, auf dem Wege der Erziehung eines anderen dann allerdings schon.
Nun zum dritten Punkt, nämlich der Frage, was einem Menschen in einem bestimmten Grad der Aufgefordertheit gemäß ist.
Es liegt ja in der Natur der Sache, daß unsere Aufgefordertheit mit dem Alter abnimmt, denn andernfalls müßten wir ewig leben. Todesakzeptanz ist das Gegenteil der Aufgefordertheit, das sagte ich auch früher schon. Und auch das sagte ich schon, daß die elterliche Rolle eine gewisse Reife, also eine gewisse Grundzufriedenheit mit dem Leben, welche mit der Todesakzeptanz identisch ist, voraussetzt, denn wer sich zu allem möglichen aufgefordert fühlt, der kann schlecht seinen Pflichten anderen gegenüber nachkommen.
Frauen nun fühlen sich diesbezüglich von Natur aus höchstens dazu aufgefordert mit ihrer Partnerwahl zu warten, bis sie eine gewisse Menschenkenntnis erworben haben, denn ihre übrigen Anliegen sind sämtlich von der Art, sich anderen gegenüber zu verpflichten und stehen ihrer elterlichen Rolle also nicht entgegen - von Natur aus. Heutzutage begegnen einem selbstverständlich ständig Frauen, welche sich der ganzen Menschheit gegenüber verpflichtet fühlen und deshalb keine Kinder wollen. Man kann nur hoffen, daß ihre Zweifel sie bei Zeiten wieder auf den rechten Pfad zurückführen.
Allgemein ist es so, um die letzten beiden Punkte mit einander in Beziehung zu setzen, daß die Vergrößerung des schlechten Gewissens seitens der Propaganda eines Staatswesens das Ziel verfolgt, die Reife der Bürger dieses Staates hinauszuschieben, um auf diese Weise die Möglichkeit zu haben, ihnen mehr beizubringen. Die Latte zur Reife wird höher gelegt. Abgesehen von sozialen Erwägungen, welche ich ja bereits behandelt habe und welche die Latte, wie gesagt, auch an die ganz falsche Stelle legen, spielt dabei Ausbildung eine zentrale Rolle. Moderne Staaten erzeugen in ihren Bürgern eine Selbstverpflichtung sich zu bilden, Ungebildetheit wird als Schandfleck empfunden. Dieses ist nun prinzipiell zu vertreten, aber nur, in sofern es Kulturtechniken betrifft, also Lesen, Schreiben, Rechnen und, wenn es nach mir ginge, auch eigenständiges, logisches Denken. Letzteres wird wohl von Grundkenntnissen der Geschichte und der Ökonomie flankiert werden müssen.
Der Wirtschaft einen Qualifizierungsüberschuß zur Lohnkostensenkung zu gewähren ist nicht Aufgabe des Gemeinwesens.
Nun, wir haben jetzt schon einen großen Teil menschlicher Gestimmtheit ausgeleuchtet, bedingt durch die Disziplinierung, welcher wir ausgesetzt sind. Darüberhinaus gibt es aber auch noch die Bereiche des Rechts und der impliziten Erwartungen innerhalb einer Kultur, welche Einfluß auf die Stimmung ihrer Mitglieder nehmen.
Menschliches Recht mag zu Umständen führen, welche wir als Unrecht vor Gott empfinden - auch davon handelte ich ja schon, daß nur Religionen langfristig Recht gewähren können - und dieses Empfinden wiederum kann zu Ohnmacht, Verdruß, Resignation, Zorn und so weiter führen, welche unsere Haltung entweder vorgeben oder jedenfalls beeinflussen, und damit auch unsere Stimmung.
Andererseits kann ein sehr vortreffliches Recht in uns auch ein übertriebenes Verlangen, es so zu erhalten, wie es ist, auslösen. Recht ist, allgemein gesprochen, nun einmal in der Welt und unmittelbar mit unserem Rechtsempfinden, welches Teil unserer Sorge ist, verknüpft, und darum spielt es für unsere Stimmung eine genauso große Rolle wie unsere persönlichen Erfahrungen. Es ist sozusagen eine geteilte nicht konkretisierte Erfahrung aller Mitglieder einer Gesellschaft.
Schließlich bleibt noch der Bereich, welcher weder durch Disziplinierung, noch durch Recht expliziert wird. Sitte, übrigens, ist eine Mischform aus Disziplinierung und Recht, und auch sonst wird man nichts jenseits dieser beiden Explikationen finden, da es nun einmal so ist, daß man etwas entweder aus inneren oder aus äußeren Gründen unterläßt.
Wo aber kein expliziter Zwang vorliegt, da kann einen nur noch eine implizite Gedankenlosigkeit anleiten, also daß man ein bestimmtes Geschehen erwartet, weil man es sich nicht anders vorstellen kann. Wenn es in einer Situation wirklich keine Alternativen gibt, so gibt es in ihr auch nur eine Stimmung. Wo es aber verschiedene Alternativen gibt, da entstehen aus ihnen unterschiedliche Stimmungen nicht zuletzt dadurch, daß man sich für eine schlicht aus dem Grund entscheidet, weil man denkt, daß sie die einzige sei.
Insbesondere ist das in solchen Fällen so, in denen ganze Kulturen unterschiedlich gestimmt sind, denn wenn die Entscheidung eine bewußte wäre, so müßten die Charaktere der Menschen der betreffenden Kulturen schon sehr verschieden zu einander sein, um diese Homogenität zu erreichen.
Betrachten wir zur Illustration dessen einmal die Idee der romantischen Liebe. Diese ist keine neue Erfindung, sie taucht ja schon im Symposion auf, also die Vorstellung, irgendwo eine andere Hälfte zu besitzen, und doch ist sie erst seit ein paar Jahrhunderten wieder in Mode gekommen.
Und es ist durchaus so, daß hier ein Fall von Gedankenlosigkeit vorliegt, denn was Platon im Symposion ja lang und breit auswalzt, nämlich der Unterschied zwischen Liebendem und Geliebtem, ist heutzutage völlig aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden. Liebe wird symmetrisch gedacht, einseitige Liebe gilt als eine Art Geisteskrankheit.
Und in dieser Entstellung der Dinge ist die ganze Stimmung des Verliebtseins begründet. Es macht eben einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich als den Liebenden und das Objekt meines Begehrens als den Geliebten, welchen es nun schlau für mich einzunehmen gilt, betrachte, oder ob ich einzig zu denken vermag: „Hoffentlich liebt sie mich auch.“
Alles weitere ergibt sich aus diesem Anfang. Natürlich betrachte ich Liebe durchaus als etwas Symmetrisches, allerdings nicht im Sinne einer anderen Hälfte, sondern in dem Sinne, daß es zu einer transzendenten Entscheidung beider kommt, indes mag diese einerseits eingeschränkt sein und andererseits nicht recht bewußt oder jedenfalls von anderen bewußten Gedanken überschattet, mit anderen Worten muß die Liebe erst freigelegt werden, wenn man es mir gestatten will, es so auszudrücken.
Und auch diese Sicht erzeugt eine Stimmung. Jede Haltung erzeugt eine Stimmung.
Damit möchte ich diesen Überblick beschließen, indes nicht ohne meine Überzeugung noch einmal zu wiederholen, daß Stimmungen das Wesentliche sind, das, worauf es zuvörderst ankommt, nämlich unser Leiden und Gefallen an dem, zu was wir geworden sind. Neues Leben bedeutet neue Gestimmtheit und neue Gestimmtheit bedeutet neues Leben. Jeder kann sich einigeln in seine Stimmung, aber den kommenden Regen, welcher das Neue wachsen läßt, verhindert er dadurch nicht.
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