Kennzeichnend für die Diktatur ist der
Zusammenbruch des öffentlichen Vertrauens auf die gesellschaftlichen Regeln. Doch indem Regeln durch Diktate ersetzt werden, verliert die Gesellschaft an Ordnung und Effizienz, was der Diktatur in den Augen aller zivilisierten Völker etwas cartoonmäßiges verleiht: Ihr ererbter Instinkt macht sich über Planungsverläufe lustig, welche ihr Verstand aus dem Stand zu übertreffen vermag, und dieser Eindruck des Lächerlichen bemächtigt sich selbst noch der Diktatoren und ihres Umfelds, wie etwa Aufnahmen aus dem Umfeld Adolf Hitlers belegen, in welchen sich die Teilnehmer über die Aufzüge auf den Nürnberger Parteitagen lustig machen.
Da sich dies so verhält, ist von zivilisierten Völkern nicht zu erwarten, daß sie leichten Sinnes in eine Diktatur gehen. Warum also gehen sie? Platon meinte, entscheidend sei die Vermessenheit des Volkes, welches Ansprüche an das Gemeinwesen stelle würde, welche unvernünftig, also gegen dessen Interessen gerichtet, seien, und so mancher Politiker heutzutage verspricht wohl auch zu viel und schürt unsinnige Erwartungen.
Ich halte aber einen anderen Faktor für entscheidend, nämlich die Weigerung der Gesellschaft sich mit bestimmten Problemen zu befassen, also Reise nach Jerusalem zu spielen und auf persönlichen Gewinn zu hoffen, wo alle absehbar verlieren. Weil es nicht genug politische Selbstbeherrschung gibt, spitzen sich Probleme zu, bis Diktate als probates Mittel erscheinen, die Weigerung zu überwinden.
Sind die in Frage stehenden Probleme behoben, so ist es ein leichtes, zu allgemein akzeptierten Regeln zurückzukehren, wobei die Gläubigkeit der Menschen darüber entscheidet, ob diese Regeln mehr
Spiel oder Verkörperung sind.
Doch möchte ich die Situation betrachten, in welcher wir uns zur Zeit befinden. Vor zweieinhalb Jahren
beherrschte die Effizienz der etablierten Regeln Deutschland: auf der einen Seite Verhärtung (
Wat mut, dat mut), auf der anderen Schönredung. Heute sind beide gewichen, statt effizienter Regeln beherrschen ineffiziente Diktate Deutschland, und aus den Verhärteten werden Subversive und aus den Schönrednern Gehorsame.
Was hier begegnet ist die Befreiung der Achtung. Nicht huldigt sie mehr der etablierten Ordnung, sondern ihren eigenen Projekten wendet sie sich zu. Was für Projekte das sind, hängt von der Situation der Achtenden ab:
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Sind sie an den Hebeln der Macht, so sinnen sie auf Putsch,
- sind sie ihnen unterworfen, so auf Subversion, und wenn
- sie aus sicherer Ferne mit der Diktatur Umgang haben, so sinnen sie fortan nicht mehr auf den Lauf der Geschichte, sondern auf Kuhhändel.
Nur übereilen wir uns nicht. Das Zeitalter der Werke hat uns ein Problem beschert, mit welchem wir uns nicht befassen, nämlich Effizienzsteigerung und Machtkonzentration in Form künstlicher Intelligenz. Dieses Problem zeugt indes Folgeprobleme in Form der Ansprüche derjenigen, in deren Händen sich die Macht konzentriert. Diese Ansprüche laufen konträr zu jenen des Gemeinwesens, was zur Weigerung der Mehrzahl der Menschen geführt hat, sie zu gewähren. Andererseits konnten die Mächtigen in Vielen unsinnige Ansprüche erwecken, und so haben wir zur Zeit zwei Blöcke, welche sich weigern, die ethischen Vorstellungen des jeweils anderen zu akzeptieren. Der politische Wettstreit ist dazu verkommen, einander gegenseitig solche Probleme zu bereiten, welche sich als Beweis der politischen Konzeptlosigkeit des Gegners medial ausschlachten lassen. Und da die Fronten verhärtet sind, läßt sich politisches Handeln nur noch als Diktieren denken.
Diktatur ist kein erstrebenswerter Preis, sondern ein geschichtlich notwendig werdendes Werkzeug. Wer meint, er sei nicht weniger konzeptlos als sein Gegner und lasse sich nicht einfach so von den Hebeln der Macht entfernen und Diktate über sich ergehen lassen, sondern er schaffe es schon, seinen Gegner als noch unverantwortlicher darzustellen, und Diktate gegen ihn zu schleudern, ohne sich mit den notwendigen Problemen zu befassen, beschädigt nur das Ansehen der etablierten Regeln, befreit damit die Achtung, wie im vorigen beschrieben, und erschwert die Rückkehr zu einer problemhinausschiebenden Ordentlichkeit.
Auch kann er dadurch das Ziel der Überwindung der diktatorischen Ära nicht ändern: Die Diktate enden erst, nachdem das Grundübel behoben wurde, bis dahin jagt eine Diktatur die nächste, wenn sich nicht trotz der Erschwerung noch restaurative Phasen dazwischenschieben.
Freilich, Restauration bleibt die ganze Zeit über ein moralisches Ziel, schließlich können Diktatoren nicht zaubern, und bei hinreichender politischer Selbstbeherrschung läßt sich alles auch einvernehmlich regeln. Nur wenn es anders läuft, sollte niemand Gott der Logik der Geschichte wegen lästern.
Wenn die diktatorische Ära zu einem Ende kommt,
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führt der Putsch zu allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Regeln,
- besinnen sich die Subversiven wieder auf ihre gesellschaftliche Verantwortung und
- orientieren sich die Kuhhändler neu.
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