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24. Mai 2020

Selbstverbesserungsgemeinschaften

Indem sich Befassungsgemeinschaften mit Verfolgung, Einlösung und Auslösung befassen, entwickelt sich die Stellung, das Verständnis oder die Haltung ihrer Mitglieder. Befassen sie sich dabei mit zweien zugleich, so werden sich die zugehörigen Orientierungen auf einander angepaßt entwickeln, wenn sie sich aber nur mit einem befassen, so findet die Entwicklung der zugehörigen Orientierung prinzipiell autonom statt, und diese Autonomie ermöglicht den Sonderfall, daß die Befassung der allgemeinen Verbesserung der eigenen Stellung, des eigenen Verständnisses oder der eigenen Haltung dient, in welchem Fall ich angesichts des Zusammenhangs von Befassungsgemeinschaften und Vereinen der höheren Kommunikation von
  • Verständnisorden,
  • Stellungsverbänden oder
  • Haltungsräten
sprechen möchte.

Ein paar Worte der Klärung. Wir verfolgen das, woran wir glauben, das, wovon wir uns etwas erwarten. Auch wenn es längere Zeit gedauert hat, mir darüber klar zu werden, ist diese Definition der Stellung doch in völliger Übereinstimmung mit ihrer ursprünglichen. Ein Verständnisorden widmet sich dem geliebten Verständnis, ein Stellungsverband koordiniert seine Mitglieder hinsichtlich dessen, woran, es zu verfolgen, ihnen gelegen ist und ein Haltungsrat plant die Einübung der ihren Stolz erweckenden Haltung.

Der Grund, warum ich mich die letzte Zeit, ohne es zu wissen, mit Selbstverbesserungsgemeinschaften beschäftigt habe, ist, daß ihr Aufkommen keineswegs selbstverständlich ist, so daß, wenn sie einmal aufkommen, dies der Zeit, in welcher sie aufkommen, einen ganz besonderen Zauber verleiht, selbst wenn hinsichtlich der Verbesserung der eigenen Orientierung nichts entscheidendes gewonnen wird.

Ich fragte mich nämlich, ob es wohl möglich wäre, daß heute, oder auch im letzten Jahrhundert, die so genannte unsterbliche Partie Berühmheit erlangen könnte, oder auch, ob es einem Mathematiker möglich wäre, denselben Einfluß auf Mathematik und Physik zu entfalten wie Bernhard Riemann seinerzeit. Die Antwort lautet natürlich Nein in beiden Fällen. Die Begründung dafür, welche einem sofort in den Kopf kommt, in einem Wort verdichtet: Gründerzeit, ist aber unbefriedigend, wenn man ähnliche Episoden in den Blick nimmt.

Warum ist Evel Knievel ein Star geworden? Ich habe als Kind auch noch Stuntshows gesehen, aber da war es schon nichts besonderes mehr. Warum kam es zu Filmen wie
  • The Italian Job,
  • Live and Let Die,
  • The Man with the Golden Gun und
  • Death on the Nile?
Was ich meine, Filme, in welchen Schauspieler Durchschnittstypen von der Straße spielen, welche in die Filmhandlung eingebunden sind. (Freilich, im Falle von The Man with the Golden Gun nur eine einzige Schauspielerin, nämlich Britt Ekland, aber ihre Präsenz ist derart, daß sie es locker mit dem Rest der Crew aufnimmt.)

Und zunächst habe ich vor dieser Frage kapituliert. Dann aber, gestern, bin ich auf ein weiteres Beispiel aus dem 19. Jahrhundert gestoßen, und da habe ich es schließlich kapiert. Die Rede ist von den Seventh-day Adventists. Nachdem Christus nicht am 22.10.1844 zurückkehrte (wie auch?, damals gab es ja all die Geräte noch nicht, welche Johannes in der Offenbarung beschreibt), machte sich diese Gruppe daran, in der Bibel nach einer Begründung für ihren Irrtum zu suchen, und wurde fündig. Entscheidend für ihr Fortbestehen war ihre Überzeugung, auf ihrem Weg zu besseren Gläubigen zu werden, wie sie exemplarisch an Ellen G. White zu erkennen ist.

Wenn also Menschen nur glauben, daß sie sich in einer Befassungsgemeinschaft selbst verbessern können, dann werden sie auch an einer solchen teilnehmen. Im 19. Jahrhundert waren Mathematik und Schachspiel nicht die Werkzeuge, welche sie heute sind, sondern vielmehr Möglichkeiten der Veranschaulichung, welche die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes wecken. Das ist mir im Hinblick auf die Gegenstände, mit welchen sich Bernhard Riemann beschäftigte, und die von ihm verwendeten Beweismethoden völlig klar, und die unsterbliche Partie dürfte auch nur aufgrund ihres metaphorischen Gehalts berühmt geworden sein, nämlich der Überlegenheit des zusammenarbeitenden Ganzen gegenüber nur auf sich selbst achtenden Spitzen.

Und wie dies also Verständnisorden sind, so kam es Mitte des 20. Jahrhunderts zu Stellungsverbänden von Teenagern, welche sich durch den Besuch von Konzerten und dergleichen mehr eine sie erfüllendere Teilhabe am Leben erhofften, als ihnen in den gewohnten Bahnen offenstand. Durch ihre Sehnsucht nach Verbindungen erschufen sie den Typus des Fans, und dieser Typus erschuf seinerseits den Typus des Stars. Und also begannen andere, bereitwillig in die Rolle des Stars zu schlüpfen, unter ihnen auch Evel Knievel. Und weil die Filmindustrie stets darum bemüht ist, ihr Publikum zu erreichen, oder jedenfalls war, bevor sie von anderen finanziert wurde, nahm sie schließlich die Beziehung zwischen Fan und Star spielerisch auf, wie an den genannten vier Filmen zu ersehen ist.

Natürlich ist nichts bleibendes dabei entstanden, ja, im Vergleich zum 19. Jahrhundert ist diese Episode geradezu beschämend, aber es ist andererseits immer schön, sich regendes Leben zu betrachten, insbesondere, wenn es sich nur alle 50 Jahre oder so einmal regt.

Wieso 50?, und nicht 100? Nun, ich denke, daß sich in den Wanderbewegungen der 1920er Jahre ein Beispiel für Haltungsräte erkennen läßt. Vielleicht ist auch die Abfolge der Selbstverbesserungsgemeinschaften durch den Eigenlauf des Ichs bestimmt: Wie Einlösung auf Verfolgung folgt und Auslösung auf Einlösung und Verfolgung wieder auf Auslösung, so mögen auch Verständnisorden auf Stellungsverbände folgen, Haltungsräte auf Verständnisorden und Stellungsverbände wieder auf Haltungsräte, doch bedürfte es einer umfangreicheren Betrachtung der Geschichte der populären Kultur als jener der letzten 200 Jahre, um diesbezüglich zu Gewißheit zu gelangen.

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