Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

6. Oktober 2022

Ein paar Gedanken zu Iwan Fjodorowitsch Karamasow

Aljoscha ist, nach seinem Gespräch im Gasthaus mit seinem Bruder Iwan, wieder bei seinem Starez, und was ich bis zu diesem Punkt zu Iwan Fjodorowitsch zu sagen habe, ist folgendes.

Iwan gibt vor, an den Leiden der Unschuldigen zu leiden, über welche er die schillerndsten Berichte sammelt, etwa über türkische Soldaten, welche Säuglinge in die Luft würfen, um sie mit dem Bajonett aufzufangen, oder sie mit dem Lauf der Pistole neckten, nur um dem lachenden Kind dann ins Gesicht zu schießen, alles vor den Augen der Mutter.

Ich möchte aber meinen, daß niemand, welcher solche Berichte nicht aus professionellen Gründen, etwa als Schriftsteller, und Iwan ist einer, sammelt, sondern aus privaten, wie Iwan von sich behauptet, ein anderes Motiv hat, als die eigene, ausgelebte Verachtung der Menschheit zu rechtfertigen, denn wer tatsächlich an den Leiden der Unschuldigen leidet, wird sich nicht so quälen wollen, und wer hinreichend grob ist, sich damit abzufinden, daß gemäß der Gaußschen Normalverteilung unter einer hinreichend großen Zahl von Fällen alles auftritt, wird nichts besonderes an ihnen finden.

Während Iwan nun das Gefühl hat, daß Pawel Fjodorowitsch ein Psychopath sei, ein Gefühl, daß ich bei seinen Ausführungen zum Abschwören des Glaubens auch einen Augenblick lang hatte, habe ich also das bestimmte Gefühl, daß Iwan ein Psychopath ist, oder, wenn nicht, Dostojewskij was Iwans Persönlichkeit angeht, lügt, oder auch Iwan selbst über sicht selbst.

Aber Dostojewskij spinnt diesen Faden weiter, indem er Iwan die Geschichte vom Großinquisitor erzählen läßt, in welcher Iwan obendrein eine Lösung für das Problem des unschuldigen Leidens anbietet, nämlich die Menschen nicht vor die Aufgabe zu stellen zu entscheiden, was gut und was böse ist, wodurch sich die Konsequenten selbst zu Grunde richteten und die Inkonsequenten gegenseitig, sondern sie davon zu überzeugen, daß nur die (katholische) Kirche dazu befähigt sei, welche sie also freiwillig in allen ethischen Fragen konsultieren würden und ihren Rat befolgen.

Iwan hält die Menschen im Großen und Ganzen für zur ethischen Einsicht und Selbstregierung unfähig, und betrachtet die Ausnahmen als Götter unter ihnen. Aber natürlich reizt es jeden Menschen, sich an dieser Göttlichkeit zu versuchen, und jeder betrachtet sich als den Helden der von ihm erlebten Geschichte. Weshalb also sollte das subjektive Gefühl, etwas besonderes geleistet zu haben, einen anderen davon ausschließen, auch etwas subjektiv für besonders gehaltenes zu leisten?

Auch würde man einen Hirsch nicht zur Monogamie anhalten und einen Menschen nicht dazu, wie er keinen Unterschied zu machen, und wenn wir also jedem Ding seine Natur gönnen, so müssen wir dem Menschen auch zugestehen, daß es nicht seine Aufgabe ist, sich um die Menschheit zu kümmern, sondern um die Gegenstände, welche zu seinem Leben gehören und welche ihm in seinem Leben begegnen, und wenn er nur gelassen wird, dies zu tun, so muß daraus seine Bestimmung genauso erwachsen, wie sie Hirschen aus ihrer Natur erwächst.

Als Smerdjakow Fjodor Pawlowitschs Tod plant, gleich ob selbst ausgeführt oder durch Anheizung Dmitrij Fjodorowitschs, sei es aus Angst vor Mitjka oder weil er sich nicht länger vor ihm mäßigen mag, einem Narren, welchen nur seine adelige Geburt erhebt, versteht Iwan zwar Pawel Fjodorowitschs manipulative Absicht, vermutet sich aber selbst als ihr Ziel und begnügt sich damit, gänzlich nebensächlich von der an ihn herangetragenen Suggestion abzuweichen, um nur ja selbst nicht in eine Falle zu gehen, auch wenn er nach seinem Gespräch mit Smerdjakow wissen muß, daß nicht sein, sondern das Leben seines Vaters bedroht ist.

Mit anderen Worten läßt Iwan Pawel also seinen Plan ausführen, auch wenn er ihn schlicht dadurch, nicht abzureisen, ohne die geringste Gefahr für sich selbst hätte vereiteln können. So weit ist es also mit Iwans Mitleid und tatkräftiger Hilfe her. Dennoch, er sieht es ja ein und nennt sich einen Schuft, ist also kein Psychopath.

Und was Smerdjakow angeht, so sagte ich ja bereits zuvor, daß er, im Gegensatz zu den Karamasows, nicht annimmt, daß sich Gott ausgerechnet um ihn kümmern würde, und so kümmert er sich eben um sich selbst, nimmt die Reden der Karamasows ernst, welche sie selbst, auf die Größe ihres Charakters vertrauend, als bloße Worte abtun: Ein Beispiel, freilich, kindlicher Unbeschwertheit und der Zumutung der Verantwortungsübernahme.

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