Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

14. Oktober 2017

Zu den 80 Prozent

Mein letzter Deutschlandbesuch im vergangenen Sommer hatte mich, wie damals schon geschrieben, erheblich verstört, weil eine Epidemie, welche mir in Ansätzen bereits vorher aufgefallen war, genauer gesagt im Jahr zuvor, als ich den Beitrag Beispiele und Analyse von Sprachmelodie im Deutschen geschrieben hatte, abhängig vom Ort zwischen 40 und 97 Prozent der Bevölkerung erfaßt hatte und mich mit dem niederschmetternden Eindruck zurückließ, daß insgesamt wohl 80 Prozent der Deutschen betroffen sein müßten.

Die Rede ist von der Angleichung der eigenen Persönlichkeit bis in die eigene Art zu sprechen hinein an Rollenvorbilder aus dem Fernsehen, und nicht etwa an einen ganzen Katalog solcher, sondern genau an ein Vorbild für Männer und eines für Frauen, weshalb ich bereits vor einem Jahr auf der Fähre ständig meinte, meinen Bruder und meine Mutter zu hören.

Die Sache ist gespenstisch und deprimierend, wenn man die Folgen bedenkt, und erinnert vage an Science-Fiction-Filme, sei es nun Invaders from Mars, Invasion of the Body Snatchers oder The Matrix Reloaded.

Indes, wenn ich an Agentin Smith aus dem Eiscafé in einem hier nicht näher bestimmten Nordseebad zurückdenke, eines, das sich seit 1970 nicht verändert hat, ganz im Gegensatz zu seinen Besuchern, wie sie ihrer Urlaubsbekanntschaft eine Urlaubsanekdote aus wärmeren Gefilden zum Besten gab, was indes nicht mehr als ein ungeduldiges Grunzen hervorrief, so begegnet mir in ihr doch etwas Menschliches, nicht ihre Urlaubsanekdote von der großen Welle, welche sie, von hinten kommend, aus cooler Pose auf den Bauch klatschte, sondern das leichte Unbehagen in ihrer Lage: Hier ist sie also, tut, was alle tun, und kann also mit allen reden, aber... mit wem redet sie also?

Solange das Vorbild nur genug strahlt, empfindet der Durchschnittsdeutsche nichts dabei, sich neu einzukleiden, denn schlechter sieht er doch nicht aus, aber wenn sich nun alle in dieselben zwei Kleider kleiden, eines für Männer und eines für Frauen, und er sich nach einem Partner umsieht, wird ihm der Verlust schlagartig bewußt, denn so voll der Anzug auch sein mag, der Filter, welcher den richtigen Anzug selektiert, ist leer, da ist nichts geblieben, und so kann es doch nicht sein, daß die eigene Wahl überflüssig wäre?

Menschliche Relationen sind informationsmäßig gesehen durch Differenzen bestimmt, und wo es keine Differenzen gibt, da gibt es auch keine unterscheidbaren Relationen. Das ist nicht ohne Witz: Die Frage nach der Diskriminierung stellt sich gar nicht erst, weil sich alle in den Einheitsanzug werfen, und erst der Wunsch danach zu diskriminieren, weckt Zweifel an ihm.

Indes, so bleibt es natürlich nicht. Ich zitiere aus dem Hexagramm 6, Die Kluft:
Gewachsene Leere der eigenen Sorge. [...] Ehrgeiz zwängt sich stracks in ein Korsett und meint alsbald kein Fett mehr auf den Rippen zu haben. Es bedarf einer Weile, bis ein Bewußtsein für die eigenen Stärken und Schwächen entsteht.
Gewachsene Fülle der umgebenden Lust. [...] Ehrgeiz ist streitlustig. Es bedarf der Besinnung auf die eigenen Ziele, um auf lange Sicht hinaus zu wirken.
Genau da stehen sie gerade, die 80 Prozent. Sie haben sich in ein Korsett gezwängt und müssen ihre eigenen Ziele klären.

Ich erwarte freilich, daß sie zu faul dafür sind und stattdessen nach neuen Vorbildnern rufen, wie gehabt bereit, sich vollends anzupassen, denn wir reden hier ja nicht von einzelnen Menschen, welche reifen, sondern vom Volk.

Indes, der Sinn des Korsetts der Erziehung ist die Erleichterung des Spiels, welches das Leben für das Volk ist, und Uniformität stört das Spiel und wird es auch weiterhin stören, solange Informationstechnik und universalistisches Rechtfertigungsbedürfnis sich zu ihr verbünden, und also wird auch dieser Menschschlag solange bleiben, ängstlich und zum Absprung bereit.

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