Bereitschaftsbeitrag

Zur Front

31. Dezember 2020

Glaube und Haltungsgeleit

Die Pharisäer zügeln die Haltung, zum einen durch Konfrontation, also durch Erschütterung, und zum andern dadurch, daß sie eine Haltung predigen, welche die Stimmung aufhellt. Diese Haltung hängt von den gesellschaftlichen Umständen ab und kann als (bestenfalls) himmlisches Geleit durch die Wirren der Zeit angesehen werden. Ich möchte diesen Zügel, das Zuckerbrot der Pharisäer, welchen sie in ihrer rechten Hand halten, die Peitsche der Konfrontation aber in ihrer linken, als Haltungsgeleit bezeichnen.

Zunächst einmal ist zur Praxis der Haltungsgeleitung zu sagen, daß ein Mensch einer Haltung, welche seine Stimmung aufhellt, nur dann treu bleibt, wenn er diesen Zusammenhang hinreichend genau versteht, also wenn er genau weiß, welche Haltungsänderung sich wie auf seine Stimmung ausgewirkt hat, denn wenn er das nicht versteht, wird er denken, daß sich seine Stimmung halt irgendwie ändert und nicht jene Haltungen wie seinen Augapfel hüten, in welchen sich sein Glaube ausdrückt, und an deren Aufgabe er entsprechend leidet (etwa durch Depression).

Der Nutzen davon, Haltungsgeleit zu geben, ist also beschränkt. Da sich Einsicht aber nur bei Gemütsruhe zusammenführen läßt, ist das Predigen einer friedensstiftenden Haltung grundsätzlich gesehen dennoch von Wert. Allerdings mag es sich begeben, daß die gesellschaftlichen Umstände solche sind, daß Friede nur durch Glauben einkehren kann.

Das Problem ist, daß das Ziel der Haltungszügelung nur Bewahrung sein kann, da die Predigt einer Haltung, welche sich aus einer neuen Einsicht heraus ergibt, bei Leuten, welche diese Einsicht nicht teilen, nicht bloß auf taube Ohren fällt, sondern eine fiebrige Unsicherheit erzeugt. Wir besitzen zwar alle Urgewißheiten (unseren subjektiven Glauben), welche nur aktiviert werden müssen, aber dazu ist es nötig, den Erkenntnisprozeß mit den Mitteln der Begriffsgebung anzuleiten, Haltungsgeleit und Konfrontation genügen nicht.

Also wird das Haltungsgeleit in unserer Zeit immer dürrer, und der Wunsch regt sich, aus ihm auszubrechen, um die Fülle jenseits seiner zu finden. Es ist aber für die Entwicklung des eigenen Glaubens von zentraler Bedeutung, die Richtigkeit des eigenen Weges zu verstehen, weshalb wir es uns nicht leisten können, unsere Entscheidungen vom Verständnis der Falschheit eines anderen Weges abhängig zu machen, oder, um es anders zu sagen, uns zu erlauben, außer Rand und Band zu geraten.

Die Fragen unserer Zeit, welche ich jetzt aufgeworfen habe, wurden erstmals in dem Film The Matrix popularisiert. Und ebenso wie die Amtskirchen empfand ich seinerzeit (genauer gesagt 2004, als ich The Matrix zum ersten Mal sah) Unbehagen angesichts der suggerierten Reduzierung des Wertes menschlichen Lebens: Wir blicken durch, sind cool und erschießen, wer uns im Wege steht. ist keine Formel, welche ich mir zu eigen machen mag. Aber wiewohl ich darin mit den Amtskirchen übereinstimme, bin ich seitdem andere Wege gegangen, um dieser Herausforderung Herr zu werden, und das fängt mit der Kritk des Matrix-Films an.

Ich empfinde es als ungeheuerlich, daß Kirchenvertreter allen Ernstes behaupten, der Matrix-Film sei gnostisch. Wenn die Kirche mit Epiphanios von Salamis darin übereinstimmt, was Gnostizismus ist, dann beweist der Spruch It's a single celled protein combined with synthetic aminos, vitamins, and minerals. Everything the body needs. und Mouse' Reaktion darauf, daß der Matrix-Film antignostisch ist. Cypher ist der Gnostiker. Die Bewohner von Zion sind nicht in eine andere Welt geflohen, in welcher alles besser ist, sondern aus derselben. Und daß, was Neo aus dieser Welt heraus treibt, der Splitter in seinem Geist, ist die Urgewißheit unserer Verbundenheit mit Gott.

Kann die Kirche schadlos die Urgewißheit unserer Verbundenheit mit Gott als die Quelle der gnostischen Häresie bezeichnen? Die Quelle allen authentischen Glaubens? Da fängt es an.

Der Matrix-Film kam 1999 in die Kinos. 2001 kamen die Türme des World Trade Centers zu Fall, 2003 begann der grenzenlose Krieg gegen den Terror und 2010 kam es schließlich zur im Matrix-Film vorgezeichneten Antwort auf ihn. Im Angesicht dieser Antwort haben die Amtskirchen sie dann ganz Matrix-konform als Kampf gegen ein ungerechtes System geheiligt. Ich teile wiederum ihre Einschätzung, daß die Antwort auf die Antwort wichtiger ist als die Antwort selbst, aber die Heiligung derselben ist der falsche Weg: Um eine weitere Eskalation zu verhindern, genügt es nicht, Verständnis zu zeigen, sondern zugleich muß der eigene Glaubensanspruch klar gemacht werden, andernfalls nur zu weiteren Ungerechtigkeiten ermutigt wird.

Betrachten wir in diesem Zusammenhang die amtskirchlich-sozialistische Allianz. Trotzky schreibt Genosse McKay:
There is no doubt whatever that the employment of the economically and culturally backward colonial masses for the world conflicts of imperialism, and still more in the class conflicts of Europe, is an exceedingly risky experiment, from the standpoint of the bourgeoisie itself. The Negroes, and indeed the natives of all the colonies, retain their conservatism and mental rigidity only insofar as they continue to live under their accustomed economic conditions. But when the hand of capital, or even sooner – the hand of militarism, tears them mechanically from their customary environment, and forces them to stake their lives for the sake of new and complicated questions and conflicts (conflicts between the bourgeoisie of different nations, conflicts between the classes of one and the same nation), then their spiritual conservatism gives way abruptly, and revolutionary ideas find rapid access to a consciousness thrown off its balance.
Die Sozialisten unterstützen ökonomisch und kulturell rückständige Massen, weil jenen zweifellos nichts anderes übrig bleibt, als die bestehende Ordnung über den Haufen zu werfen, wenn nur hinreichender Druck auf sie ausgeübt wird. Und die Amtskirchen? Ist davon auszugehen, daß eine solche Revolution aus unzureichender kultureller Prägung Gerechtigkeit erzeugt? Oder, was dasselbe ist, daß Gerechtigkeit keine kulturellen Voraussetzungen hat? Daß das Reich Gottes genausogut vor 10000 Jahren hätte kommen können, und alles nur eine Frage des Verordnens ist?

Aber wenn wir das verneinen, dann müssen wir auch unsere eigene kulturelle Entwicklungslinie schützen (was freilich nicht mit gesellschaftlichem Stillstand identisch ist). Aufgrund dieser zunehmenden Abgelöstheit der Amtskirchen, welche sich angesichts ihrer Unterstützung des amtlichen Coronakurses noch einmal verschärft hat, ist es nun dahin gekommen, daß Viele ihr Heil gemäß einer einfachen Güterabwägung außer Rand und Band suchen. Aber was ich, wie im vorigen Beitrag beschrieben, kommen sehe, ist ein Hervortreten des eigenen Glaubens, eine allgemeine Verwerfung des Handlungsgeleits, nicht um der Ungezügeltheit willen, sondern zur Bekräftigung der menschlichen Würde, in welcher in dieser Stunde weit mehr Leben liegt als im zunehmend dürreren Handlungsgeleit. Und um es spirituell zu formulieren:
Nicht verblendeten Fanatismus sehe ich heraufziehen,
sondern daß wir unseren Glauben wiederfinden.

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